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Rollende Praxis gegen Zwei-Klassen-Medizin
Seit über 30 Jahren versorgt das Mainzer Arztmobil jene, die an den Hürden des deutschen Gesundheitssystems scheitern
»Wenn ich freitags unterwegs bin – jeder wünscht mir ein schönes Wochenende. Und meint das auch so.« Gerhard Trabert lächelt zufrieden, wenn er über seinen Arbeitsalltag spricht. Dabei befasst er sich seit mittlerweile über 30 Jahren mit einem komplexen Thema der Sozialpolitik: Menschen mit unzureichendem Krankenschutz. Seit Mitte der 90er Jahre sucht er mit dem Arztmobil wohnungslose und armutsgefährdete Menschen in Rheinland-Pfalz auf, die anderenfalls schweren oder keinen Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung hätten.
Das betrifft derzeit in Deutschland über eine Million Menschen, so der Politologe Ilker Ataç von der Hochschule Fulda. Er veröffentlichte im Oktober eine Bestandsaufnahme von Zugangsbarrieren zur medizinischen Versorgung. In Rheinland-Pfalz geht man von 20 000 Betroffenen aus, die keinen Krankenversicherungsschutz haben. Besonders prekär ist der Zugang zum Gesundheitssystem für Drittstaatsangehörige ohne regulären Aufenthaltsstatus.
Aber auch kürzlich aus der Haft Entlassene müssen vier bis sechs Wochen auf die Ausstellung ihrer Gesundheitskarte warten. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosigkeit ist außerdem ein Sechstel aller Wohnungslosen in Deutschland nicht krankenversichert. Sie sind für Trabert »die Spitze des Armutseisbergs«. Er ist überzeugt, die Dunkelziffer der Unversicherten liege deutlich höher. Und Trabert hat viel Erfahrung in dem Bereich.
Seine Auseinandersetzung mit dem Thema begann Anfang der 90er Jahre. Damals leitete er eine Sportgruppe für wohnungslose Männer. »Da habe ich erstmals mitbekommen, dass viele in einem gesundheitlich schlechten Zustand waren«, erinnert er sich. Er schrieb seine Doktorarbeit über die Gesundheit wohnungsloser Menschen und stellte fest, wie viele vom deutschen Gesundheitssystem nicht versorgt wurden. In Indien lernte er bei der Behandlung Leprakranker die aufsuchende Gesundheitsversorgung kennen. Sie lieferte das bis heute aktuelle Motto seiner Arbeit: »Kommt der Patient nicht zum Arzt, muss der Arzt zum Patienten gehen«.
Als erster Arzt in Deutschland erhielt Trabert eine kassenärztliche Zulassung, Menschen »aufsuchend zu versorgen«. Ab 1994 war er mit seinem Arztkoffer in der Hand in Mainz unterwegs. Schnell wurde jedoch klar: Für Untersuchungen braucht es einen Schutzraum. Die Idee für das fahrbare Sprechzimmer entstand, ein hellblauer Kleinbus wurde besorgt und der Verein »Armut und Gesundheit in Deutschland« (a+G) gegründet. Eine Anschubfinanzierung gab es über den britischen Rockmusiker Phil Collins. Die Hilfsorganisation Caritas sammelte damals Spenden bei dessen Konzerten, angeregt durch sein Lied zum Thema Obdachlosigkeit »Another Day in Paradise«. 20 000 Mark gingen an das Arztmobil.
30 Jahre später sind es illegalisierte Menschen, die vor den größten Barrieren im Gesundheitssystem stehen. Nach Paragraf 87 des Aufenthaltsgesetzes müssen öffentliche Stellen Personen ohne Papiere bei Ausländerbehörden melden, woraufhin ihnen die Abschiebung droht. Deswegen schrecken viele davor zurück, in Krankheitsfällen eine Behörde aufzusuchen.
Dabei schützt sie der Nothelferparagraf. Laut ihm muss eine Notfallbehandlung von der Sozialbehörde auch ohne Angaben der Personalien erstattet werden. In der Praxis mache man aber die Erfahrung, so Trabert, dass viele Behörden auf Meldungen bestehen und Kliniken sich deswegen nicht auf Behandlungen einließen. Der Rechtsstreit sei zu mühsam. Das Arztmobil wird über Spenden finanziert, und so werden alle, egal ob akut oder chronisch, behandelt. 2023 hatte das Team um Trabert 1593 Patient*innenkontakte.
Vorbild für solche Fälle ist der »anonyme Krankenschein«, über den das Geld aus einem Behandlungsfonds zur Verfügung gestellt wird. Den legt a+G gemeinsam mit der Medizinischen Vermittlungsstelle Medinetz Mainz auf. Vom Land gibt es ihn nicht, anders als beispielsweise in Thüringen. Auch Bonn und München bieten ihn an. Das Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung (MASTD) im Ampel-regierten Rheinland-Pfalz verwies auf Nachfrage dazu auf Überbrückungsleistungen, die für Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung »längstens für einen Monat gewährt« werden und »auch die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände umfassen«. Zur Einführung eines Behandlungsfonds gebe es keine Pläne.
Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.
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Mit der Zeit wurden die Gruppen, die a+G aufsuchten, immer diverser. Seit der Novellierung des Sozialgesetzbuches 2016 sind auch EU-Bürger*innen ohne sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis vom Krankenversicherungssystem ausgeschlossen. Neue Patient*innen im Arztmobil sind außerdem privatversicherte Künstler*innen und, vor allem während der Covid-Pandemie, insolvente Kleinunternehmer*innen. Vielen sei nicht bewusst, dass sie in finanziell prekären Situationen bei ihren Kassen zu einem Basis- oder Notlagentarif wechseln könnten, so Trabert. »Kassen informieren oft nicht über die Möglichkeit, den Beitrag zu reduzieren und weiterhin versichert zu sein.«
Zum Verein gehören inzwischen auch die »Medizinische Ambulanz ohne Grenzen«, die kostenlos stationäre fachärztliche und zahnärztliche Behandlung anbietet, und »Clearingstellen« mit Sozialarbeiter*innen. Deren Aufgabe ist es, Personen zu ihrer Versicherungslage zu beraten und in Krankenversicherungen zu integrieren. Auch indem sie sie bei der Arbeitsvermittlung unterstützen. Das MASTD fördert zwischen Januar 2023 und Dezember 2024 vier Clearingstellen in Rheinland-Pfalz mit insgesamt einer halben Million Euro.
In 65 Prozent der Fälle gelinge die Vermittlung an Krankenversicherungen laut Angaben von a+G. »Das zeigt, dass Jobcenter, Sozialamt und Krankenkassen nicht richtig informieren«, kritisiert Trabert. Auch die Bürokratie der Behörden sei zu komplex, er komme sich selbst oft vor wie ein »funktioneller Analphabet«. Eigentlich müssten sich alle Menschen selbst über ihren Versicherungsschutz informieren könnten, fordert er.
»Kassen informieren oft nicht über die Möglichkeit, den Beitrag zu reduzieren und weiterhin versichert zu sein.«
Gerhard Trabert Verein Armut und Gesundheit in Deutschland
Fragt man Trabert nach Ideen, wie das Gesundheitssystem besser funktionieren könnte, ist er ohnehin kaum zu bremsen. Inzwischen gebe es in ärmeren Gebieten immer weniger Arztpraxen, zählt er auf. Schon die Fahrt zur Praxis stelle eine Herausforderung dar und müsste deswegen zumindest für Kinder kostenlos sein.
Im neuesten Überschuldungsreport des Instituts für Finanzdienstleistungen ist Krankheit 2024 erstmals der häufigste Grund für Überschuldung. Deswegen müssten die Sätze für Gesundheit im Bürgergeld erhöht, außerdem der Versicherungsschutz in Europa angeglichen und in Deutschland das duale Versicherungssystem durch eine allgemeine Bürgerversicherung ersetzt werden. Auch um diese Themen ins Rampenlicht zu rücken, kandidierte Trabert bei den vergangenen EU-Wahlen für Die Linke und wird bei den kommenden Bundestagswahlen wieder antreten.
Gab es im (noch) SPD-geführten Gesundheitsministerium Pläne für die über eine Million unversicherten Menschen in Deutschland? Auf »nd«-Anfrage heißt es dazu, der Koalitionsvertrag der Ampel habe vorgesehen, den Zugang zur Krankenversicherung und die Versorgung von Menschen mit ungeklärtem Versicherungsstatus »zu prüfen und im Sinne der Betroffenen zu klären«. Die konkreten Maßnahmen konnten jedoch »innerhalb der Koalition nicht mehr abgestimmt und geeint werden«.
Heute fährt das erste hellblaue Arztmobil seine Runden in Rumänien, Trabert ist in Mainz und Umgebung mit der Version 3.0 unterwegs. Seine Arbeit macht ihm weiterhin Spaß. »Man begegnet sich authentisch auf Augenhöhe. Das gibt mir viel«, sagt er. So wie an einem heißen Sommertag, erinnert er sich, als es vor einer Geflüchtetenunterkunft an der Tür des Arztmobils klopfte. Davor standen eine afghanische Frau und ihre Tochter und reichten Trabert Tee und Gebäck mit den Worten: »Herr Doktor, sie brauchen eine Pause.« So bekomme er in seinem Beruf immer etwas zurück.
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