Polizeiprozess in Dortmund kurz vor dem Ende

Angeklagte Beamt*innen könnten sich laut Richter »Notwehrsituation vorgestellt haben«

Die angeklagten Polizeibeamt*innen im Schwurgerichtssaal in Dortmund
Die angeklagten Polizeibeamt*innen im Schwurgerichtssaal in Dortmund

Der Prozess um die tödlichen Polizeischüsse auf den 16-jährigen Flüchtling Mouhamed Dramé aus dem August 2022 nähert sich seinem Ende. Am kommenden Montag sollen die letzten beiden Zeugen vernommen werden, gefolgt vom Plädoyer der Staatsanwaltschaft. Am Mittwoch folgen die Schlussvorträge der Nebenklage sowie der Verteidigung der angeklagten Polizist*innen. Am 12. Dezember will der Vorsitzende Richter Thomas Kelm das Urteil verkünden. Diesen Zeitplan hat Kelm am Dienstag beim 28. Prozesstag vor dem Landgericht in Dortmund bestätigt.

Der polizeiliche Schütze, der den aus dem Senegal stammenden Dramé mit seiner Maschinenpistole erschoss, ist wegen Totschlags angeklagt. Einem mitangeklagten Kollegen und den beiden Kolleginnen wirft die Staatsanwaltschaft wegen Einsätzen von Tasern und Pfefferspray gefährliche Körperverletzung im Amt vor. Der angeklagte Dienstgruppenführer soll seine Untergebenen zu der tödlichen Tat im Garten einer kirchlichen Jugendeinrichtung angestiftet haben.

Verurteilungen von Polizist*innen wegen Totschlags oder gefährlicher Körperverletzung sind äußerst selten.

Verurteilungen von Polizist*innen wegen Totschlags oder gefährlicher Körperverletzung sind in Deutschland äußerst selten. Ob es dazu kommt, ist aber fraglich, denn Richter Kelm hält für die begangenen Delikte auch einen fehlenden Vorsatz und damit Fahrlässigkeit für denkbar. Hintergrund ist die schwierige Bewertung der Situation, in der Dramé mit den polizeilichen Zwangsmitteln aus einer Nische gejagt wurde, in die er sich – offenbar in suizidaler Absicht – mit einem Messer vor dem Bauch gekauert hatte.

»Wir wissen nicht, was im Kopf des Geschädigten vorging«, sagte der Richter dazu am Dienstag. Es sei im Prozess nicht zu klären gewesen, ob er mit dem Messer in der Hand fliehen oder die Polizei angreifen wollte. »Auf jeden Fall ist es aber so, dass sich die Angeklagten eine Notwehrsituation vorgestellt haben«, sagte Kelm. In einer solchen Konstellation komme für drei der Angeklagten, unter anderem für den Schützen, keine Bestrafung wegen vorsätzlicher Taten mehr in Betracht – wohl aber wegen fahrlässiger Delikte. Auch beim Gruppenführer könne dies zutreffen.

Der juristische Ausdruck für die Einbildung einer Notwehrsituation lautet »Erlaubnistatbestandsirrtum«. Hierüber hatte Kelm bereits vergangene Woche im Prozess entsprechende Ausführungen gemacht. Notwendig war dies aus Fairness-Gründen, um die Angeklagten auf ein möglicherweise auf Fahrlässigkeit basierendes Urteil vorzubereiten.

Seit einigen Monaten wirbt der Todesschütze in deutschen Medien um Verständnis für seine tödlichen Schüsse auf Dramé. Auch »Spiegel TV« gab ihm dazu vor einem Monat viel Raum. In der Sendung wurde der nd-Autor Friedrich Kraft, der mehrfach vom Prozess und über den Getöteten berichtete, mit falschen Tatsachenbehauptungen und einer aufdringlichen Kameraführung herabgewürdigt. Die Regisseurin Vanessa Nischik hielt ihm unter anderem vor, Mitglied der vom Verfassungsschutz beobachteten Gruppe »Defund Police« zu sein.

Hierzu hat das Landgericht Hamburg nun eine einstweilige Verfügung erlassen und das Magazin verpflichtet, Passagen aus dem Video zu entfernen. »Mit anderen Worten hatte Spiegel TV nachlässig recherchiert«, erklärt Medienanwalt Jasper Prigge, der Kraft vertritt.

Zu Fragen des »nd« nach den Gründen ihrer tendenziösen Berichterstattung äußerte sich die Regisseurin nicht. Man prüfe aber die Einlegung von Rechtsmitteln gegen die Verfügung, antwortete stattdessen eine Managerin der Spiegel-Verlagsgruppe. »Ich war Mittel zum Zweck für Nischiks Interesse, Halb- und Unwahrheiten über den Fall Mouhamed zu verbreiten«, kommentiert der nd-Autor. »Ich konnte mich wehren; dem getöteten Mouhamed stand der Weg der Klage nicht offen.«

Wenn der Prozess gegen die fünf Beamt*innen wie geplant in zwei Wochen endet, hat er ein Jahr gedauert. Kurz nach Beginn waren Mouhameds Brüder Sidy und Lassana aus dem Senegal angereist, um als Nebenkläger teilzunehmen. Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed hat jeden Verhandlungstag kritisch dokumentiert, Mahnwachen vor dem Landgericht organisiert und die Familie Dramé unterstützt. Für den 14. Dezember ist in Dortmund eine Demonstration anlässlich des Urteils angekündigt.

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