- Kommentare
- Social Media
Twitter-Exodus: Anderswo ist der Himmel blauer
Erstmals könnte eine große Umzugswelle von Twitter zu einem Konkurrenten nachhaltig sein
Es hilft nichts, wir müssen nochmal über Social Media reden. Das möchte ja eigentlich niemand, es ist wirklich alles gesagt. Manche mögen sie, manche mögen sie nicht, der Rest kommt ins Kleingedruckte.
Wäre da nicht Elon Musk, der Twitter zerstört hat. So weit auch keine Neuigkeit, denn es ist ja schon wieder zwei Jahre her, seit er Twitter gekauft, die meisten Beschäftigten vor die Tür gesetzt und das Ganze dann zu »X« umgebaut hat. Wir wissen, dass er damit politische Ziele verfolgt, Antisemit und Rassist ist. Für Journalist*innen, Linke, Feminist*innen, Schwarze, LGBTIQ wurde es schwerer, dafür fühlen sich Nazis dort jetzt sehr wohl.
Anne Roth gehört zu den Pionierinnen linker Netzpolitik. Für »nd« schreibt sie jeden ersten Montag im Monat über digitale Grundrechte und feministische Perspektiven auf Technik.
Bei jeder größeren Veränderung seit der Übernahme war zu beobachten, dass Nutzer*innen in großen Wellen zu anderen Netzwerken wechselten. An die, die blieben, gab es jedes Mal eindringliche Aufrufe, Twitter doch auch endlich aufzugeben. Die Early Adopters adopteten eine Plattform nach der anderen und alle stritten glücklich über Mastodon versus Instagram. Was es nicht gab, war die eine Alternative, die Twitter wirklich ersetzen konnte. Und so blieben doch ziemlich viele, wo sie waren, oder kehrten nach einer Weile wieder zurück, wohl in der Hoffnung, dass der Spuk irgendwann wieder verschwindet.
Aber jetzt ist etwas Ungewöhnliches passiert. Seit Donald Trump die Wahl in den USA gewonnen hat, von Musk und »X« kräftig unterstützt, ebbt die Twitter-Fluchtwelle nicht mehr ab. Bisher dauerten solche Wellen zu anderen Plattformen ein paar Tage und dann beruhigte sich alles. Nicht dieses Mal. Offenbar waren die Wahl und Musks Rolle dabei der Auslöser, der etwas in Gang gesetzt hat, an das niemand mehr geglaubt hatte. Dabei kamen mehrere Dinge zusammen. Einerseits teilte Trump mit, Musk einen wichtigen Posten in seiner Regierung zu geben, andererseits kündigte »X« relevante Änderungen an. So sollen die Daten der Nutzer*innen zum Training von KI genutzt werden, ohne dass es die Möglichkeit gibt, dem zu widersprechen. Und dann wurde ein wesentliches Detail der Blockierfunktion geändert. Inzwischen können blockierte Accounts die Posts derer, von denen sie blockiert wurden, wieder sehen. Klingt nach einer Kleinigkeit, kann in der zunehmend aggressiven Umgebung aber zur Folge haben, dass Accounts, die sowieso häufig attackiert werden, noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen und nun keine Möglichkeit mehr haben, sich dem zu entziehen. Es sei denn, sie verschwinden mit ihrem Account gänzlich aus der Öffentlichkeit.
Der zweite wesentliche Unterschied ist, dass die Welle ein eindeutiges Ziel hat. »Bluesky«, der ›blaue Himmel‹, war vor fünf Jahren innerhalb von Twitter als Kurznachrichtendienst gestartet, um bestimmte technische Veränderungen zu testen. Bald nach der Übernahme durch Musk wurde es ein separates Unternehmen. Die Plattform hat rein äußerlich eine Menge Ähnlichkeit mit Twitter, erreichte aber nicht die nötige kritische Masse, um eine ernsthafte Alternative zu sein.
Von neun auf 24 Millionen Accounts in zwei Monaten
Das könnte sich jetzt ändern. Im September hatte Bluesky neun Millionen Nutzer*innen, Mitte Oktober schon zwölf Millionen und seitdem hat sich diese Zahl noch mal verdoppelt auf mittlerweile knapp 24 Millionen, teilweise wurden eine Million neue Accounts pro Tag gemeldet. »X« hingegen verliert seit 2022 Nutzer*innen. Es sind trotzdem noch um ein Vielfaches mehr als bei Bluesky, aber interessant sind die Beobachtungen diverser Medien, die derzeit mitteilen, dass die Klicks ihrer Websites viel häufiger von Bluesky kommen als von »X« oder dem in den USA sehr beliebten »Threads«.
Wer noch auf »X« ist, kennt das Phänomen: Im Vergleich zu früher werden Tweets kaum wahrgenommen, bekommen viel weniger Likes oder Retweets. Offensichtlich ein Effekt des auf rechts gedrehten Algorithmus. Wenn jetzt eine wahrnehmbare Menge relevanter Accounts von Medien, Politik und Institutionen umzieht, entsteht eine Dynamik, die dem Twitter von früher ähnelt. Und genau das findet unter dem Hashtag #eXit gerade statt. Angefangen haben damit österreichische Accounts wie Armin Wolf mit mehr als 600 000 Follower*innen bei »X«, und viele andere folgten. Darunter so unterschiedliche wie die Leipziger Buchmesse, die Seebrücke, der SC Freiburg und die frühere EU-Kommissarin Vera Jourová. Viele große Medien sind schon weg. Am Montag gab eine Gruppe größerer Accounts gemeinsam bekannt, dass sie »X« den Rücken kehren, darunter Max Czollek, Sawsan Chebli, Dunja Hayali, aber auch Institutionen wie das Haus der Wannseekonferenz. Ihre Gründe erläutern sie in einem Offenen Brief: »Twitter – heute X – ist ein toxischer Ort geworden, eine Brutstätte von Rechtsextremismus, Wissenschaftsleugnung, Hass und Verschwörungserzählungen. Ein Ort, wo der Betreiber der Plattform dergleichen nicht nur duldet, sondern aktiv fördert und propagiert.«
Warum Bluesky und nicht Mastodon
Warum nicht zum nicht-kommerziellen Netzwerk Mastodon? Haben wir nichts daraus gelernt, dass Twitter verkauft wurde und eben nicht unser aller digitaler öffentlicher Marktplatz war, sondern letztlich ein Unternehmen, das nicht nach demokratischen Regeln funktioniert? Mastodon kann nicht verkauft werden, es gehört allen, ist ein dezentrales Netz vieler unabhängiger Betreiber*innen. Es hat alle Vor- und Nachteile von DIY. Wer sich reinfuchst, kann (fast) alles nach eigenen Vorstellungen ändern.
Es gibt viele kleine und größere Communitys, für die das wunderbar funktioniert, aber für die ganz breite Masse eignet sich Mastodon nicht. Das hat nicht zuletzt auch mit dem sperrigen Verhalten vieler Leute zu tun, die den Neuen sehr deutlich machen, dass Mastodon eben kein zweites Twitter sein soll. Die Zahl der Accounts stagniert bei etwa 15 Millionen und damit hat Bluesky Mastodon im vergangenen Monat bereits deutlich überholt. Glücklicherweise ist es gut möglich, beides zu benutzen, und es gibt sogar schon Apps, die dabei helfen, mit einem Klick auf beiden gleichzeitig zu posten.
Bluesky wird gelegentlich auch als dezentral beschrieben, aber tatsächlich ist es das nicht. Und es gibt noch ein paar Haken. Auch hier sind sehr viele Informationen öffentlich, darunter auch, wer wen blockiert. Auf den ersten Blick kein Drama, aber auf den zweiten kann das schnell unangenehm werden, denn daraus lassen sich einfach politische Präferenzen ableiten. Noch sind die Trolle jedoch nicht dort angekommen, und so freuen sich viele über die ungewohnt angenehme Atmosphäre. Und letztlich ist es wohl die Haptik, also das Gefühl der Plattform, die dem früheren Twitter sehr viel näher kommt als alle anderen. Meine Empfehlung: Wer soziale Medien nicht nur zum Zeitvertreib nutzt, sondern politisch etwas verändern will, muss Mastodon und Bluesky nutzen, denn hier wie dort gibt es viele, die das interessiert.
Twitter-Trennungsschmerz
Vielleicht noch kurz zu denen, die sich schwer trennen können. Ich gebe zu, ich gehöre auch dazu. Gerade international gibt es dort Informationen, die sonst schwer zu finden sind. Aber es ist ja auch möglich, den eigenen Account stillzulegen und trotzdem weiter mitzulesen.
Sollen wir einen Ort, der für viele lange wie ein zweites, digitales Zuhause war, einfach den Rechten überlassen? Müssen wir nicht gegenhalten, schon wegen der vielen, die keine Nazis und weiterhin dort sind? Ich fürchte, den Kampf haben wir verloren. Gegen die vielen technischen Veränderungen, die es nach dem Verkauf gab, können wir nicht ankommen. Und wir gehen ja auch nicht zum AfD-Parteitag und versuchen dort, noch irgendwen zu überzeugen. Deswegen: Nehmt Eure Freund*innen, nutzt die Gelegenheit, dass sich gerade viele neu umgucken und zieht um!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.