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»The Outrun«: Im Schlund

Mit »The Outrun« legt Nora Fingscheidt ihren nächsten Film mit einer unglaublich präsenten Frauenfigur vor

Rona (Saoirse Ronan) hat das Leben zu tief in sich aufgesogen. Oder eher andersrum.
Rona (Saoirse Ronan) hat das Leben zu tief in sich aufgesogen. Oder eher andersrum.

Die Großstadt kann einen mit Haut und Haaren auffressen, wenn man nicht aufpasst. Diese ständigen Verführungen hier und da und überall, dabei soll man sich doch eigentlich auf irgendwas mit beruflicher Zukunft konzentrieren. Die Ablenkungsmanöver sind nur schwer zu ignorieren, erst recht, wenn man jung ist und eigentlich gar nicht wissen will, wohin einen das Leben treibt. So geht es Rona, der Hauptfigur in Nora Fingscheidts drittem Spielfilm »The Outrun«. Rona (Saoirse Ronan) ist lost in London. Ihre Heimat, die abgelegenen Orkney-Inseln im äußersten Norden Schottlands, hat sie verlassen, um in der großen Stadt Biologie zu studieren. Wie jeder lebenshungrige junge Mensch stürzt sie sich voll rein in die bunte, krawallige Partywelt, in der sie dann auch wie in einem Schlund verschwindet. Aber davon erfahren wir nach und nach.

Der Film beginnt in der atemberaubenden Natur Schottlands, schroff, launig, unbarmherzig. Die Wellen des Atlantiks peitschen an der massiven Felsenküste des Orkney Archipels empor. Rona ist in ihre Heimat, auf die Hauptinsel Mainland, zurückgekehrt, weil London sie ausgespuckt hat wie einen unappetitlichen Kaugummi. Rona ist nur noch ein Schatten, ihre Bewegungen mechanisch, ihre Lebenslust unter einem Haufen leerer Bierflaschen begraben. Massiv alkoholabhängig denkt Rona, dass sie nach dem Entzug, wenn dann nur hier bei ihrer Familie wieder klarkommt.

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Der Film verwebt geschickt und mit kontrastreichen Schnitten die verschiedenen Welten, die man sich so Stück für Stück erschließt: nüchtern und zugedröhnt. Die dritte Ebene sind Ronas poetische Naturbeobachtungen, die aber keineswegs aufgesetzt wirken, eher kontemplativ, und aus dem Off eingestreut werden.

Ihrem Vater hilft Rona auf der Schafsfarm, bringt Lämmer zur Welt, füttert sie und sitzt in den Pausen mit Kopfhörern und wummernder Technomusik auf den Ohren an den Klippen und sieht sich in der nächsten Szene quasi selbst beim Totalabsturz in irgendeinem Londoner Club zu. Die verschiedenen zeitlichen Ebenen erkennt man am besten an Ronas wechselnden Haarfarben und wie sie sich auswachsen.

Fingscheidt hat ein Faible für Frauenfiguren, die in existenziellen Kämpfen mit sich selbst feststecken. Ihr Debütfilm »Systemsprenger« (2019) erzählt ja ebenso von einem Mädchen jenseits dessen, was die Welt für normal hält. Und auch Rona sagt über sich selbst: »Der Rand ist das, wo ich herkomme. Der Rand ist mein Zuhause.«

Die Naturaufnahmen, für die Fingscheidt zu drei unterschiedlichen Zeiten auf den Orkney-Inseln drehte (während der Lammgeburten, Vogelnistzeiten und Paarungszeiten der Robben) stehen im krassen Widerspruch zu dem Hedonismus, der sich in den London-Sequenzen offenbart. Selten hat ein Film das Thema Alkoholismus und die Sehnsucht nach Heilung wohl anhand einer solch abseitigen Kontrastierung verhandelt.

Und ständig ringen ihre verschiedenen inneren Dämonen mit Rona, die gut ausbalanciert in die Story eingeflochten sind, was der extrem disziplinierten Drehbucharbeit Fingscheidts zu verdanken ist. Aus der gleichnamigen Romanvorlage der Journalistin Amy Liptrot, die in dem Buch ihre eigene Sucht- und Lebensgeschichte verarbeitet, extrahierte Fingscheidt mit verschiedenfarbigen Textmarkern unterschiedliche Ebenen, die sie für das Skript neu zusammensetzte, sodass sie für das Medium Film mehr Sinn ergaben.

Selten hat ein Film das Thema Alkoholismus und die Sehnsucht nach Heilung wohl anhand einer solch abseitigen Kontrastierung verhandelt.

Neben Ronas Alkoholsucht entfaltet sich so ein immer komplexeres Leben. Rona, die mit einem psychisch kranken Vater und einer Mutter aufwächst, die aus Einsamkeit Halt in der Religiosität sucht, ist aus der Lust am Leben von der Insel geflüchtet, so wie wahrscheinlich nur wenige vor ihr. Die Inselbewohner*innen zeichnet Fingscheidt, die zusammen mit Liptrot das Drehbuch schrieb, aber nicht als engstirnige Eigenbrödler am Rande der Welt, sondern als traditionsbewusste, aber warmherzige und fürsorgliche Menschen, die Ronas Weggang nicht als Verrat verstehen, sondern die es als Vertrauensbeweis sehen, dass sie ausgerechnet hier wieder Schutz und Geborgenheit sucht. Den besten Rat im Kampf um die Abstinenz gibt ihr dann auch ein alteingesessener Inselbewohner: »Einfach wird es nie, es wird nur weniger schwer.« Und so ganz nebenbei wird ohne moralischen Impetus gezeigt, dass der Alkohol immens viele Menschen mit sich reißt.

Fingscheidt schafft mit »The Outrun« eine überaus komplexe Abhandlung über das Schwierigste im Leben: das Überleben. Die Bildästhetik erinnert an Terrence Malicks Epos »The Tree of Life«, nur ist »The Outrun« wesentlich zugänglicher und nicht bis ans Nervtötende sakral.

Die Handlung ist simpel, weil der Alkohol ja immer dieselben Geschichten vom Zerfall und der schlussendlichen Auflösung eines Menschen erzählt, aber Fingscheidt und Liptrot erzeugen mit den Wechseln zwischen den verschiedenen Phasen von Ronas Heilungsgeschichte eine ganz spezielle Energie. Am Anfang ist der Film wahnsinnig hektisch und fiebrig, London ist bunt und laut, Orkney grau, blau, ungemütlich. Erst als sich Rona in ein Vogelwärterhäuschen ganz am Rande der eh schon abgelegenen Insel Papa Westray zurückzieht, um wirklich gar keinen Verführungen mehr ausgesetzt zu sein, kommt auch der Film zur Ruhe. Die Natur, die eh schon eine herausragende Rolle spielt, wird zur tragenden Figur des Films. Irgendwann gen Ende, und das ist vielleicht der einzige Makel des Drehbuchs, werden die Wechsel zwischen Rückschau und Gegenwart redundant. Das Teuflische an Ronas Londoner Leben ist spätestens hier klar und dem wird auch mit der zehnten Rückblende nichts Elementares mehr hinzugefügt.

Schlussendlich aber schafft es der Film, durch ein schlaues Drehbuch und die fragile wie explosive Präsenz von Saoirse Roman, eine bewegende Geschichte von Familie, Gesundung und Geborgenheit zu erzählen, die auch dank der Kameraarbeit von Yunus Roi Imer, mit dem Fingscheidt schon bei »Systemsprenger« zusammenarbeitete, außergewöhnlich intensiv nachzuwirken.

»The Outrun«, Deutschland/Großbritannien 2024. Regie: Nora Fingscheidt, Drehbuch: Nora Fingscheidt/Amy Liptrot. Mit: Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Dillane. 119 Minuten, Start: 5.12.

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