Piraten und Zwangsarbeiter

Die Edelweißpiraten, die sich dem NS widersetzten, gehören zur liberalen Erinnerungskultur Kölns. Überdeckt wird damit aber eine andere Geschichte

  • Felix Klopotek
  • Lesedauer: 7 Min.
Mitglieder der Edelweißpiraten, die sich in den 1930er und 40er Jahren der Hitlerjugend und dem NS widersetzten
Mitglieder der Edelweißpiraten, die sich in den 1930er und 40er Jahren der Hitlerjugend und dem NS widersetzten

Die Gegend um den Kölner Bahnhof Ehrenfeld ist eine der beliebtesten Ausgeh- und Partymeilen der Stadt. Ein halbes Dutzend Clubs sind fußläufig zu erreichen, Bars, Imbisse und Foodtrucks säumen die Straßen. Im gegenüber vom Bahnhof liegenden »Kebapland« hat Moderator und Comedian Jan Böhmermann zu Mittag gegessen, was dem Laden einen bis heute anhaltenden Hype beschert. In Ehrenfeld fühlen sich die Kölner dem Berliner Nachtleben besonders nah, obwohl hier, recht besehen, nichts nach Großstadt aussieht.

Vor achtzig Jahren fand direkt am Bahnhof ein Nazi-Verbrechen statt. Öffentlich erhängte hier die Gestapo frühere Mitglieder der Kölner Edelweißpiraten, die sich in einer Ehrenfelder Bande organisiert und sich Schießereien mit der Gestapo geliefert hatten. Es dauerte Jahrzehnte, bis dieses Ereignis Teil der Kölner und darüber hinaus der deutschen Erinnerungskultur wurde. Edelweißpiraten und insbesondere die Ehrenfelder Gruppe galten als Kriminelle, nicht als widerständige, rebellische, antinazistische Jugendliche.

Erst vor zwanzig Jahren hat sich das Blatt gewendet: Nicht nur ist die Straße vor dem Bahnhof nach einem der ermordeten Jugendlichen benannt – nach Bartholomäus »Barthel« Schink –, vor allem ist es ein riesiges, buntes Wandbild, Motive aus dem Leben und Strophen aus Liedern der Edelweißpiraten zitierend, das fester Bestandteil der liberalen kölschen Folklore und obligatorisches Ziel von Stadtteil-Führungen ist. Aber die Geschichte ist unvollständig und das weit verbreitete Geschichtsbewusstsein verkürzt. Provokant gesagt: Man nimmt in Köln und weit darüber hinaus das Erbe der Edelweißpiraten gerne an, um sich mit einer anderen Geschichte nicht auseinanderzusetzen.

Das Erbe der Edelweißpiraten

Tatsächlich gab es eine rebellische – wenn auch kleine – Jugendkultur im Nationalsozialismus, die sich nicht unterkriegen ließ, die sich als immun gegen den Terror der Indoktrinierung durch die Hitler-Jugend erwies und später, insbesondere in der Endphase des Krieges, sogar zu offensiven Widerstandsaktionen überging. Die Kölner Edelweißpiraten inspirierten Historiker, sich in anderen Städten umzusehen: Edelweißpiraten gab es auch in Duisburg und Wuppertal, in Düsseldorf waren es Kittelbachpiraten, im Ruhrgebiet hießen sie Navajos und in Leipzig waren die Meuten unterwegs. Es waren Kinder und Jugendliche aus der Arbeiterklasse, viele kamen aus einstigen kommunistischen Familien, auch ein Bezug zur bündischen Wanderjugend der 1920er Jahre lässt sich nachweisen. Die Gruppen entstanden spontan und unabhängig voneinander, die Jugendlichen organisierten sich selbst ohne Kader- oder Rädelsführerstruktur. Eine Verbindung zu kommunistischen Zellen im Untergrund gab es erst 1943/44.

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Das ist eine faszinierende Geschichte, ohne Zweifel, und noch heute empört es, dass die Überlebenden so lange um ihre Anerkennung als Antifaschisten und Widerstandskämpfer ringen mussten, so lange gegen das Stigma ankämpfen mussten, Kleinkriminelle und verwahrloste Obdachlose gewesen zu sein. Vom Tisch ist die Sache freilich nicht. Im Bundestag ließ die AfD bereits anfragen, ob in den KZs nicht auch gewöhnliche Kriminelle inhaftiert waren – das seien ja wohl keine Opfer des NS. Diese Sichtweise wurde von allen anderen Fraktionen entschieden zurückgewiesen. Aber man darf getrost davon ausgehen, dass eine weiter erstarkende AfD, die auch kulturpolitisch größeren Einfluss gewinnen wird, immer wieder diese Frage stellen wird. Übrigens: In den 1980er und 90er Jahren waren es in Nordrhein-Westfalen Landesregierungen unter SPD-Führung, die den Edelweißpiraten die Anerkennung versagten und am Narrativ festhielten, diese seien eigentlich unpolitisch und kriminell gewesen.

Aber welcher Teil Geschichte wird nicht erzählt? Dirk Lukaßen, der den Museumsdienst des Kölner NS-Dokumentationszentrums leitet und die vielen Führungen und Workshops zu den Edelweißpiraten koordiniert, zeigt es an einem Beispiel. In Publikationen, sagt er, seien bis heute Fotos vom 10. November zu entdecken, deren Bildunterschrift auf die Edelweißpiraten verweisen. Dabei erkenne man doch sofort, dass darauf nicht nur Jugendliche zu sehen seien.

Wofür wurde man gehängt?

Die Mordaktion richtete sich nicht gegen die 1944 bereits weitgehend zerschlagenen Edelweißpiraten, sondern explizit gegen die »Ehrenfelder Gruppe« um den entflohenen KZ-Häftling Heinz Steinbrück, der in den Trümmern Kölns Deserteure, Zwangsarbeiter, untergetauchte Juden um sich versammelte – und eben auch versprengte Edelweißpiraten. Es war zunächst eine Überlebensgemeinschaft, die sich nach und nach in einen regelrechten Partisanenkampf mit der Gestapo hineinsteigerte. Um es klar zu sagen: Niemand ist gehängt worden, weil er Edelweißpirat war. Erst als sich die Jugendlichen mit Zwangsarbeitern und Deserteuren zusammentaten, als sie Kontakt zu kommunistischen Zellen aufnahmen und schließlich SA- und Gestapo-Schergen erschossen, traf auch sie der volle Terror des Nazi-Apparates.

Erst als sich die Jugendlichen mit Zwangsarbeitern und Deserteuren zusammentaten, traf auch sie der volle Terror des Nazi-Apparates.

Gerade die Situation der Zwangsarbeiter, erst recht in der Endphase des Krieges, ist in der Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt, meint Lukaßen. Nach den verheerenden Bombardements entvölkerte sich Köln rasant, 1944 standen weniger als 200 000 Kölnern 100 000 Zwangsarbeiter gegenüber. Die Angst vor ihrer Rache nach all den ihnen zugefügten Qualen war groß. Die Gestapo rechnete mit Aufständen. Zwangsarbeitern drohte bei Abweichung deshalb nicht, wie den Edelweißpiraten, der Jugendknast, sondern die Todesstrafe. Von ihrem Widerstand, ihrem Hass auf die Nazis und die Deutschen, ihren Ausbruchsversuchen und dem Überlebenskampf weiß man in der Öffentlichkeit immer noch zu wenig. Für die Gestapo und die SS, die nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 de facto die zivile Verwaltung übernahm, verlief die Front auch im Inneren, also quer durch Köln. Zwangsarbeiter, obdachlose Jugendliche, geflohene Lager-Häftlinge, Deserteure und ein kommunistischer Untergrund, der in der Paranoia der Nazis wohl als größer imaginiert wurde, als er tatsächlich war, sorgten bei der Gestapo für eine »Wir oder die«-Stimmung. Als ihr Katalysator wirkt der beschleunigte Zerfall aller sozialen und zivilen Strukturen. Die Leute aus der Ehrenfelder Gruppe schossen auf die Gestapo-Offiziere nicht aus strategischen Erwägungen, sondern weil sie nichts mehr zu verlieren hatten.

Das volle Ausmaß des Terrors

Die Führungen, die das NS-Dokumentationszentrum heute veranstaltet, wollen das Bewusstsein für diese Lage schärfen, für den extremen Terror, den das Regime gerade in seiner Endphase entfachte und der bis zum Zusammenbruch der Kriegsfront vor allem die Zwangsarbeiter traf. Sicher, immer noch ist der Kölner Volksgarten ein zentraler Ort dieser Führungen: In dessen Rosengarten trafen sich bis zur großen Razzia im Dezember 1942 die Edelweißpiraten. Etwa 200 Jugendliche haben sich hier Abend für Abend versammelt, so zwischen 15 und 18 Jahre alt, darunter viele Mädchen. Sie waren auf sich gestellt: die Väter im Krieg oder schon gefallen, ausgebombt und obdachlos. Sie waren auf sich gestellt – und wollten das auch bleiben. Anstatt auf Hilfeleistungen der von den Nazis organisierten Sozialwerke zu warten, entschieden sich viele von ihnen für Einbrüche und Diebstähle. Mit HJ-Mitgliedern lieferten sie sich regelmäßig Scharmützel. Auch wenn Politik im klassischen Sinn nicht im Vordergrund stand, ging es ihnen darum, sich Freiräume zu erkämpfen, ohne Nazi-Propaganda und ohne Drill. Sie wollten, ganz einfach, nicht mitmachen. Trotzdem meldeten sich Edelweißpiraten später freiwillig zur Wehrmacht. Das ist die – heute – bekannte Seite der Geschichte.

Aber danach geht die Führung des Dokumentationszentrums weiter zur ehemaligen Gestapo-Zentrale, dem »El-De Haus« (nach den Initialen des Bauherrn: Leopold Dahmen). Dort geht es zu den Zellen im Keller, eng, stickig, schon für zwei Leute ist so eine Zelle zu klein. Im letzten Kriegsjahr pferchte die Gestapo zwanzig Leute und mehr in diese Löcher: Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, politische – meist kommunistische – Häftlinge. Ab November 1944 begann eine grauenhafte Hinrichtungsroutine, zwei Gefangene pro Tag, einfach um die Zellen leer zu bekommen. Die Gestapo-Leute haben über die Hinrichtungen selbstherrlich entschieden, den Galgen im Innenhof improvisierten sie.

Man muss vorsichtig sein mit allgemeinen Deutungen, allein schon weil das Chaos in den letzten Kriegsmonaten zu groß war. Was man festhalten kann: Die mörderische Volksgemeinschaft blieb bis zuletzt intakt. Die Gestapo war in Köln überraschend dünn besetzt, nur wenige Dutzend Beamte. Sie waren auf Denunziationen aus der Bevölkerung angewiesen, deren Strom nicht versiegte. Angesichts ihrer zerstörten Städte, der näher rückenden Front und der zunehmenden Masse der Zwangsarbeiter reagierten die Volksgemeinschaft und ihre Exekutoren panisch. Der Terror, den sie dabei ausübten, war maßlos.

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