»Wenn Frontex hier ist, sind die EU-Grenzen hier«

In Albanien haben Aktivist*innen aus verschiedenen Ländern gegen den Flüchtlings-Deal mit Italien demonstriert

Das italienisch-albanische Netzwerk gegen die Inhaftierung von Migranten beim Protest vor einer Woche in Tirana.
Das italienisch-albanische Netzwerk gegen die Inhaftierung von Migranten beim Protest vor einer Woche in Tirana.

Mit dem Meloni-Rama-Deal wollte Italien Asylsuchende aus sogenannten Drittstaaten nach Albanien bringen. Nun sind die Lager aber wieder leer. Was ist passiert?

Nach zwei Operationen im Rahmen dieses Abkommens im Oktober und November wurden alle betroffenen Migranten aus den Zentren in Shengjin und Gjader wieder zurückgeschickt, weil das Gericht in Rom, das für die Inhaftierung dieser Asylsuchenden in den albanischen Zentren zuständig ist, dies nicht legitimiert hat. Die Behörden müssen nun auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs warten. Der soll klären, ob das, was Italien tut, verfassungsgemäß ist. Dabei geht es vor allem darum, ob Bangladesch und Ägypten, woher die Menschen stammten, sogenannte sichere Herkunftsländer sind, die von Grenzverfahren im Rahmen des Abkommens umfasst sind.

Was sind diese Zentren für Orte?

Im Hafen von Shengjin haben italienische Behörden 4000 Quadratmeter für eine sogenannte Hotspot-Struktur gemietet. Dort sollen Asylsuchende Identifizierungs- und Vorprüfungsverfahren sowie eine medizinische Untersuchung durchlaufen. Für das Asylverfahren sollen sie dann in das Lager in Gjader gebracht werden. Das dortige Aufnahmezentrum soll Platz für 880 Migranten haben, ein sogenanntes Zentrum für dauerhafte Rückführung für 144 Migranten. Es gibt auch ein Gefängnis mit 20 Plätzen. Zu Shengjin kenne ich keine offiziellen Zahlen; ein Sicherheitsmann sagte mir, es gebe dort 250 Plätze.

Interview

Kristina Millona ist Wissenschaftlerin und investigative Journalistin in Tirana, Albanien, und beschäftigt sich mit Themen rund um albanische Migration, Grenzgewalt und rassistischen Kapitalismus. Nach ihrem Abschluss an der SOAS University of London in Transnational Queer Feminist Politics hat sie über die Kriminalisierung albanischer Migranten in Großbritannien geforscht.

Wie lange dauert das Asylverfahren in Gjader?

Laut Protokoll sollten die Menschen insgesamt nicht länger als 28 Tage ab dem Moment ihrer Ankunft in Albanien eingesperrt sein. Offensichtlich fand bei der ersten Operation sogar alles bis zur Ablehnung innerhalb von 24 Stunden statt.

Das wird alles von italienischen Behörden auf albanischem Boden durchgeführt?

Ja. Auch der Transfer von Shengjin nach Gjader erfolgt zwar mit albanischen Polizeiautos, wird aber von italienischen Carabinieri und Zivilfahrzeugen begleitet.

Es heißt, pro Asylsuchenden habe die Aktion 31 000 Euro gekostet, nachdem sie mit Marineschiffen erst nach Albanien und dann wieder zurück nach Italien gebracht wurden. Wie teuer ist der Deal für Italien insgesamt?

Für die ersten fünf Jahre des Betriebs, einschließlich des Baus, des zugewiesenen Budgets für die Bezahlung der Mitarbeiter, sind es fast eine Milliarde Euro. Das ist Wahnsinn. Nun sind alle Mitarbeiter aber erst mal gegangen. Einige italienische Carabinieri müssen bleiben, um die Zentren zu warten. Die wurden jetzt offenbar in Rettungsstationen für streunende Hunde umgewandelt.

Eine private Initiative der Polizisten?

Nicht offiziell, ja. Ich denke, diese Polizisten langweilen sich dort.

Sie kritisieren den Meloni-Rama-Deal auch wegen Verstoßes gegen die Anti-Folter-Konvention. Warum?

Stellen Sie sich vor, die lange Reise, die sie durchmachen mussten, um mit Booten in Italien anzukommen, nur um dann zu entdecken, dass sie zusätzliche Tage warten müssen auf die ausgewählte Ausschiffung, dann, ob sie die ausgewählte Gruppe für den Transfer nach Albanien sein werden. Und wenn das vorbei ist, gibt es zwei zusätzliche Tage für den Transport mit Marineschiffen dorthin. Übrigens wurde bei der zweiten Aktion von den italienischen Behörden nicht bemerkt, dass eine Person mit Halluzinationen, also einer psychischen Erkrankung, darunter war. All das geschah unter der Aufsicht der Internationalen Organisation für Migration und dem Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen.

Wie und durch wen wurde der Vertrag mit Italien verhandelt?

Das geschah hinter verschlossenen Türen. Niemand wusste davon. Es war schockierend, zumindest für uns in Albanien, zu erfahren, dass dies ein Abkommen war, das von unserem Premierminister vorangetrieben wurde. Es fehlte auch die Ermächtigung durch den albanischen Präsidenten. Warum reden wir in der EU nur über die Oligarchie von Putin und nicht über Rama? Es ist übrigens auch nicht das erste albanische Experiment der Externalisierung von Migration.

Im Jahr 2019 war es das erste Land, das eine Frontex-Operation außerhalb der EU erlaubte. Warum?

Es ist ein weiterer Mechanismus der EU, um Druck auf die Balkanländer auszuüben, die in EU-Beitrittsgesprächen sind. Sie sollen Ankünfte von Menschen auf der Flucht stoppen. Es zeigt sich hier die Fiktionalität von Grenzen und wie leicht sie verschoben werden. Denn Albanien liegt ja eigentlich nicht an den Außengrenzen der EU. Wenn Frontex hier ist, sind aber auch die EU-Grenzen hier. Es gibt den Witz, dass man an der Grenze mit Griechenland mehr Frontex-Beamte findet als albanische Bürger, die noch dort leben. Bekannt gewordene Frontex-Berichte zeigen übrigens, dass es intern die Regel gibt, keine schwerwiegenden Vorfälle von Misshandlungen von Migranten zu melden. Ein Whistleblower hat einen solchen Fall dann bekannt gemacht

Sie haben auch zu asylsuchenden Albanern in Großbritannien geforscht. Wie ist deren Situation?

Noch im Jahr 2022 waren Albaner die größte Gruppe von Migranten, die von der französischen Küste nach Südengland einreisten, darunter auch diejenigen, die den Ärmelkanal in kleinen Booten überquerten. Laut Daten des britischen Innenministeriums beantragte die Mehrheit von ihnen – fast 11000 – Asyl. Allerdings erhalten die meisten kein Aufenthaltsrecht. Ohne diesen Status sind sie einem erhöhten Risiko von Inhaftierung, Abschiebung und dem Ausschluss von sozialen Leistungen ausgesetzt und ihnen wird das Recht auf Arbeit verweigert. Diese Maßnahmen haben schwerwiegende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der albanischen Migranten.

Zivilgesellschaftliche Organisationen und Oppositionsparteien haben es nicht geschafft, den Meloni-Rama-Deal zu stoppen. Letzte Woche gab es Proteste.

Wir haben das länderübergreifende Netzwerk gegen die Inhaftierung von Migranten gegründet, eine Initiative, die aus Aktivisten und Organisationen in Italien und Albanien entstanden ist. Unsere erste öffentliche Mobilisierung haben wir in Albanien am 1. und 2. Dezember in Shengjin und Gjader organisiert. Anschließend demonstrierten wir in Tirana vor der italienischen Botschaft, dem Europa-Haus und dem Gebäude des albanischen Premierministers. Wir hatten sehr klare Botschaften für jede Institution. Wir haben gefragt, warum die EU-Institutionen zu diesem Deal schweigen, warum sie akzeptieren, dass hier kein EU-Asylrecht angewendet wird. Vor der italienischen Botschaft waren auch Migranten selbst als Demonstranten dabei, sehr wütend sagten sie: »Warum kommt ihr nicht raus und sagt uns, warum ihr diesen Deal macht? Eine Milliarde Euro, wofür? Für ein Tierrettungszentrum.«

Wie erfolgreich war die Mobilisierung?

Es waren etwa 200 Protestierende hier, die Mehrheit aus Italien. Zwei, drei Organisationen aus Albanien haben auch aufgerufen. Auch Aktivisten aus Griechenland waren da. Ich finde, es hätten mehr Europäer aus anderen Ländern kommen sollen. Denn sie sind auch für diesen Deal verantwortlich.

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