- Politik
- Nach dem Sturz von Assad
Islamisten in Syrien: »Ein Wolf im Schafspelz«
Rosa Burç und Kerem Schamberger über die islamistischen Machthaber in Damaskus und die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens
Viele US-Linke haben nach dem Sturz Assads behauptet, die USA und Israel stünden hinter den Ereignissen. Umgekehrt sprechen syrische Oppositionelle von einem Sieg des Volkes. Doch ist der Kollaps des Assad-Regimes nicht eher einer Verknüpfung von Zufällen geschuldet? Israel hat die für Assad lebenswichtige Hisbollah im Libanon zerschlagen, Russland konzentriert sich auf die Ukraine.
Burç: Selbstverständlich ist das Ende jeder Diktatur ein Grund zur Freude. Ich würde allerdings nicht von einem Sieg des Volkes sprechen. Anders als 2011 gab es diesmal keinen revolutionären Aufstand gegen Assad. Das Ganze ähnelte eher einer Machtübergabe von Regierungstruppen an Milizen, die über viele Jahre von der Türkei aufgebaut worden sind. Diese Gruppen haben ein Möglichkeitsfenster genutzt – weil der Iran geschwächt ist und Russland andere Prioritäten setzt.
Schamberger: Die sogenannte »Achse des Widerstands«, zu der neben dem Iran, Hisbollah und dem Assad-Regime auch die schiitischen Kräfte im Irak gehören, sind seit längerer Zeit geschwächt worden. Vor allem durch die israelischen Angriffe auf den Libanon und die Hisbollah. Aber auch durch Abkommen der Türkei mit der irakischen Zentralregierung. Aus den Reihen der SDF, der plurinationalen Selbstverteidigungskräfte Nord- und Ostsyriens, heißt es, dass man bereits seit zwei Monaten von einer bevorstehenden Offensive der islamistischen Milizen wusste.
Rosa Burç ist Soziologin mit den Schwerpunkten soziale Bewegungen sowie Friedens- und Konfliktforschung.
Kerem Schamberger ist Autor und Referent für Flucht und Migration bei Medico International. Momentan ist er in Elternzeit. In diesem Interview vertritt er seine persönlichen Ansichten.
Die kurdische Partei PYD hat in den letzten Tagen demonstrativ zwischen der Syrischen Nationalen Armee (SNA) und den ebenfalls von der Türkei unterstützten, aber etwas autonomeren HTS – einem Nachfolger der islamistischen Al Nusra-Front – unterschieden. Vermutlich hat die kurdische Bewegung gar keine andere Wahl, als Dialogbereitschaft zu zeigen. Trotzdem stellt sich natürlich die Frage, ob es so etwas wie einen nicht reaktionären Islamismus geben kann.
Burç: Ich halte das moderate Auftreten der HTS für ein taktisches Manöver. Würde die Miliz aggressiver auftreten, gäbe es – wie damals beim IS (Islamischen Staat) – eine Intervention von außen. Man darf sich nichts vormachen: Der HTS-Kommandant Dscholani war Mitglied des IS, und die Tatsache, dass die Türkei in ihm einen Verbündeten sieht, verweist ja ebenfalls recht deutlich darauf, dass es sich bei seiner Miliz nicht um eine demokratische Bewegung handelt. Wenn die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens trotzdem Verhandlungen mit der HTS sucht, dann um eine Konfrontation zu vermeiden. Die SDF kontrollieren bis zu 40 Prozent Syriens, die HTS hat Damaskus übernommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es zwischen den islamistischen Milizen auf der einen Seite und der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens auf der anderen auf Dauer keine diplomatische Lösung geben kann. Im Fall der SNA ist das sogar noch eindeutiger als bei der HTS: Diese Miliz ist direkt ein Vehikel des türkischen Expansionismus. Deswegen greift die SNA die kurdischen Gebiete gerade auch direkt an. Ihr Ziel ist es, Kobani einzunehmen und die türkische Pufferzone auszuweiten.
Sind Sie mit dieser Einschätzung einverstanden?
Schamberger: Ja, ich würde Dscholani als »Wolf im Schafspelz« bezeichnen. Weil er auf zahlreichen Terrorlisten steht und ein hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt ist, versucht er, sich ein moderates Image zuzulegen. Dabei müssen wir nur anschauen, wie die HTS in der Provinz Idlib in den letzten Jahren regiert hat – sie hat Journalisten eingesperrt, Frauen unterdrückt und Kritiker verfolgt. Deswegen halte ich die Annahme des Historikers Hamit Bozarslan für sehr begründet, dass aus Syrien mittelfristig ein Dschihadistan entstehen wird, in dem sich islamistische Gruppierungen jeglicher Couleur tummeln werden.
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In Assads Militärgefängnissen wurden Zehntausende gefoltert
Wie ist die Entwicklung aus feministischer Sicht? Assad war ein Schlächter, aber für Frauen war die Lage in Syrien sicherlich besser als beispielsweise in Saudi-Arabien. Gibt es aus feministischen Gruppen in Syrien Äußerungen zur Lage?
Burç: Die Lage der Frauen war unter Assad alles andere als gut. Das Assad-Regime war eine Diktatur, in der Frauen politisch nichts gestalten konnten und viele in Foltergefängnissen saßen. Leider wird es jetzt, unter einem dschihadistischen Regime, gewiss nicht besser werden. Die Kolonisierung der Frauenkörper gehört zu den ersten Projekten der islamistischen Rechten.
Russland und Iran sind in Syrien vernichtend geschlagen worden. Der gewählte US-Präsident Donald Trump behauptet, der Krieg in Syrien sei »nicht unser Kampf«. Läuft das alles jetzt auf einen totalen Sieg der Türkei hinaus? Oder ist Chaos wie in Libyen das realistischste Szenario?
Schamberger: Trumps Aussage, dass die USA keine Interessen in Syrien verfolgen, ist hanebüchen. Für Washington ging es ebenso wie für Israel darum, die Nachschubwege der Hisbollah aus dem Iran zu unterbrechen. Das ist gelungen – die SDF hat die entsprechenden Grenzübergänge im Osten Syriens eingenommen und der Weg durch die syrische Wüste ist derzeit versperrt. In diesem Sinne ist der Hauptgewinner im Augenblick Israel, weil die sogenannte »Achse des Widerstands« geschwächt ist und Israel nun zusätzlich die entmilitarisierte Zone in den Golanhöhen übernehmen konnte. Israelische Panzer stehen nur wenige dutzend Kilometer vor Damaskus. Der andere große Gewinner ist die Türkei, für die sich die Entwicklung aber auch als Pyrrhus-Sieg erweisen kann. Ein islamistisches Regime an der eigenen Grenze dürfte nämlich auch die Türkei massiv destabilisieren.
Burç: Ich glaube auch nicht, dass die Türkei als absoluter Sieger gelten kann. Die HTS wird nicht mehr so stark auf die Unterstützung der Türkei angewiesen sein und jetzt vermutlich auch ganz eigene Interessen verfolgen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sich die Türkei mit der SNA eine eigene Miliz hält: Diese Truppe dient dazu, unmittelbare Interessen der Türkei in Syrien durchzusetzen.
Was bedeutet das für die Selbstverwaltungsgebiete in Nord- und Ostsyrien? Bisher haben die kurdisch dominierten SDF sehr geschickt zwischen den ausländischen Mächten agiert. Jetzt aber werden sie möglicherweise nicht mehr gebraucht. Ist die Lage Rojavas damit noch aussichtsloser geworden?
Burç: In den bislang von der SDF kontrollierten Gebieten befinden sich ein Großteil der Weizenfelder und Ölvorkommen. Die neuen Machthaber in Damaskus werden ohne diese Ressourcen nicht in der Lage sein, Syrien zu regieren. Optimistisch gesprochen könnte es hier zu Verhandlungen kommen – aber längerfristig ist eine militärische Auseinandersetzung leider wahrscheinlich. Die Position der SDF wäre nicht so schlecht, hätte sie es nicht mit dem Nato-Staat Türkei zu tun, der schon seit Jahren alles unternimmt, um die selbstverwalteten Gebiete auszuhungern und von der Wasserversorgung abzuschneiden. Gleichzeitig ist die SDF in der Bevölkerung aber auch gut verankert. Syrien ist ein multiethnischer und sehr heterogener Staat. Der Zulauf zur SDF hat auch damit zu tun, dass sie politische Lösungen für die Plurinationalität zu entwickeln versucht. Die Selbstverwaltung wird ja nicht nur aus der kurdischen Bevölkerung, sondern auch aus arabischen, feministischen, progressiven Bevölkerungsteilen mitgetragen. In diesem Sinne ist die SDF zwar angreifbar, aber sicher nicht machtlos.
Schamberger: Für die Türkei könnte die Gemengelage übrigens auch noch ziemlich kompliziert werden. Die Angriffe der türkisch kontrollierten SNA auf kurdische Gebiete und die Vertreibung von Hunderttausenden aus dem Gebiet um Aleppo sind fürchterlich. Aber gleichzeitig kommt jetzt auch wieder Bewegung in den Konflikt. Die HTS wird möglicherweise schon bald die türkische Besatzung infrage stellen, und die SNA stellt einen Unruhefaktor dar. In den letzten Tagen gab es Festnahmen von SNA-Kommandanten, die für Plünderungen verantwortlich waren, durch die HTS. Es gibt also schon erste Risse im islamistischen Gefüge.
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Wie kann man das Vorgehen Russlands und der Türkei im syrischen Bürgerkrieg eigentlich am besten beschreiben? Ist das ein Subimperialismus, bei dem das Kriegs-Chaos ein zentrales Instrument der Machtausübung ist? Oder unterscheiden sich die Imperialismen der Türkei und Russlands gar nicht so wesentlich von dem des Westens?
Burç: Die Erzählung, dass es zwischen der Politik der Türkei und ihrer Nato-Mitgliedschaft einen Widerspruch gibt, lässt sich meiner Ansicht nach nicht mehr halten. Die Türkei kann nicht gegen die Nato agieren. Es ist vielmehr eher so, dass sie ihre Handlungsspielräume innerhalb der Nato zu erweitern und eigene panturkistische Ziele zu verfolgen versucht. Das aber steht nicht grundsätzlich in Widerspruch zu den geopolitischen Interessen der Nato. Wahrscheinlich müssen wir uns einfach von binären Vorstellungen von Imperialismus verabschieden. Die USA können heute problemlos zwei Projekte gleichzeitig verfolgen: Sie unterstützen die kurdisch geprägten SDF und setzen gleichzeitig darauf, die Türkei als Regionalmacht zu stärken. In einer multipolaren Weltordnung ist diese Widersprüchlichkeit dem Imperialismus einfach eingeschrieben.
Schamberger: Wir erleben gerade die Neugestaltung des Nahen und Mittleren Ostens, und die Türkei agiert hier als regionalimperialistischer Akteur. Ökonomisch mag sie kein starker Akteur sein, aber ihre militärische Macht und die kulturelle »soft power« sind beträchtlich. Ein großes Interesse der Türkei besteht darin, den Iran als Konkurrenten zu schwächen. Und dieses Anliegen wiederum deckt sich mit dem der Nato. Wenn Bundesaußenministerin Baerbock die Türkei immer wieder als Stabilitätsfaktor lobt, ist das nicht einfach nur ein Ausrutscher.
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