Mit der Kalaschnikow unterm Sternenhimmel

Boulevard: Silke Maier-Witt erinnert sich an ihre Zeit in der RAF und das Leben danach

Silke Maier-Witt hat ihre Memoiren geschrieben.
Silke Maier-Witt hat ihre Memoiren geschrieben.

Die Probleme, die man als frischgebackenes Mitglied der linksradikalen Stadtguerillagruppe Rote-Armee-Fraktion (RAF) haben konnte, waren manchmal ganz praktischer Art: »Ja, ich weiß, dass Waffen dazugehören, aber diese hier ist wirklich groß und furchterregend ... die Waffe nehme ich in der Handtasche mit. Es ist das erste Mal, dass ich sie in der Öffentlichkeit mit mir herumtrage. Sie wiegt schwer.« Die 27-jährige Silke Maier-Witt hat soeben ihre erste Pistole ausgehändigt bekommen, die sie, wie man ihr erklärt, stets bei sich tragen solle. »Ob ich mich daran wirklich gewöhnen kann? Beim Anprobieren wird mir klar, dass ich ab sofort nur weite Oberteile tragen werde. Die Hose darf im Bund nicht zu eng sein, sonst passt dieses Ding, die Pistole, nicht mehr dazwischen.«

Auf Menschen geschossen hat sie mit »diesem Ding« nie, wie sie in ihrer soeben erschienenen Autobiografie schreibt: »Ich bin niemals in die Situation gekommen, sie ziehen oder gar abdrücken zu müssen. Gott sei Dank!« Maier-Witt erzählt in ihrem Buch, das den reißerischen Titel »Ich dachte, bis dahin bin ich tot« trägt, von ihren Jahren in der RAF, der sie von 1977 bis 1980 angehörte, und der Zeit danach, die sie – bis zu ihrer Verhaftung durch bundesdeutsche Behörden 1990 – als Untergetauchte in der DDR verbrachte.

Glaubt man ihr, scheint es in der RAF manchmal so entspannt zugegangen zu sein wie bei Uschi Obermaier und Rainer Langhans zu Hause: »Alle sitzen im großen Wohnzimmer, sind guter Stimmung, der Fernseher läuft, das Essen wird bereits erwartet. Es herrscht WG-Atmosphäre.« Der Alltag ist aber auch gekennzeichnet durch schleichende Paranoia und permanentes Unterwegssein. In konspirativen Wohnungen schlafen auch schon mal »zehn Leute auf Matratzen auf dem Boden«. Auch das in linken Gruppen übliche Gerangel um Autorität und die nur mühsam versteckten inoffiziellen Hierarchien beschreibt die Autorin. Vor allem aber ist der Alltag eine logistische Herausforderung: Planung von »Aktionen«, Aufgabenverteilung, Bargeldbeschaffung, Anlegen von sogenannten Erddepots, Waffenschmuggel, Anmietung von Wohnungen und Autos, Fälschung von Passdokumenten, Erkundung von Fahrtrouten oder Grenzübergängen, Transporte und Kuriertätigkeiten, Ausspionieren von Orten und zeitlichen Abläufen, beständiges Hin- und Herreisen.

Maier-Witts Bericht über ihr Leben gewährt nicht nur einen Einblick in das Innenleben und den Alltag einer illegalen militanten Gruppe, er ist auch das Psychogramm einer klassischen Mitläuferin. Die Autorin schildert wiederholt ihre Verhaltensmuster während ihrer Jahre in der RAF: die Neigung, sich unterzuordnen und einzufügen; das stumme Aufblicken zu den hochrangigen Mitgliedern der Gruppe; die Scheu, durch unpassende Äußerungen oder Fragen unangenehm aufzufallen; der Wunsch, konkrete Handlungsanweisungen von »oben« zu bekommen; die stetige Bereitschaft, Aufträge zu erfüllen.

Die Autobiografin porträtiert sich als konfliktscheuen Menschen auf der Suche nach Anerkennung, eine schüchterne und zurückhaltende junge Frau, die sich für eine bessere, gerechtere Welt engagieren will, im Grunde jedoch weitgehend ahnungs- und orientierungslos ist und nicht recht weiß, wo sie gelandet ist: »In der ersten Zeit meiner Illegalität in Amsterdam laufe ich neben den anderen her, begreife meist nicht, wovon die Rede ist.« – »Ich selbst bin vor allem unsicher, will mir das aber nicht anmerken lassen. Ich weiß nicht, was hier eigentlich gespielt, was von mir verlangt wird.« – »Ich bin eigentlich hilflos, weiß nicht, welche Initiativen ich entwickeln soll.« – »Ich weiß meist nicht konkret, worum es geht.« – »Ich denke, an mir gibt es nichts auszusetzen. Ich mache, was von mir erwartet wird.«

Tatsächlich zeigt sich an zahlreichen Stellen ihres Buches, dass sie, was politische Kenntnisse oder Theorie angeht, völlig unbefleckt von jeglichem Wissen ist. Im Grunde ist sie auf der Suche nach einer Ersatzfamilie: »Für Ausgleich, Versöhnung, ja Liebe war kein Platz. Es ist kein Zufall, dass gerade die Liebe eine so untergeordnete Rolle in meinem Leben gespielt hat.«

Auf den ersten 60 Seiten des Buches blickt die Autorin auf ihre Kindheit und Jugend in der postnationalsozialistischen BRD der 50er und 60er Jahre zurück: Sie wird durch mehrere Familien gereicht, erfährt wenig Zuneigung, die Bezugspersonen wechseln. Die Mutter stirbt früh; der Vater, die meiste Zeit abwesend, ist, wie in vielen deutschen Familien jener Zeit, ein über die Vergangenheit schweigender Nazi. Eine ganz normale deutsche Jugend, die wirkt wie die Vorlage für einen Gisela-Elsner-Roman: »Die Zeit meiner beginnenden Pubertät war innerhalb der Familie von Sprachlosigkeit, Gefühllosigkeit und Kälte gekennzeichnet.« Zudem »herrschten Schamhaftigkeit, Gehemmtheit, unausgesprochene Konflikte«. Bis sich schließlich Ende der 60er Jahre einiges ändert: Anti-Vietnamkriegsproteste, Studenten- und Frauenbewegung, Wohngemeinschaften, Haschisch. In der gerade erwachsen werdenden Silke gedeihen ebenso romantische wie einfältige Vorstellungen: »Wenn viele Menschen die Erfahrung eines LSD-Trips machen könnten, so dachte ich eine Zeit lang, dann wäre die Welt eine bessere. In allem steckte der Wunsch, diese Welt gerechter zu machen.«

Das Buch ist einerseits ein interessantes Dokument, das Aufschluss gibt über das Leben und die Gefühlswelt einer illegalen, polizeilich verfolgten militanten politischen Gruppe. Es widerlegt den Mythos, dass sämtliche RAF-Terroristen blutrünstige Monster gewesen seien, die ihre Freude am Töten anderer Menschen ausgelebt haben. Andererseits ist es auf eine Art verfasst, die einem das Lesen vergällt. Denn das bei Weitem Auffälligste und zugleich Enervierendste an dieser Autobiografie ist ihr Stil – oder besser: Nicht-Stil: eine ungustiöse Mischung aus unbeholfenem Schulaufsatzduktus, Teenagertagebuch-Sound, Karl-May-Kolportage und Boulevardzeitungsdeutsch.

So erzählt Maier-Witt etwa von ihrem ersten Schießtraining im Wald: »Auch ich darf ein, zwei Schüsse abgeben. Es ist das erste Mal … Es fühlt sich an, als wäre ich taub, aber ich habe getroffen.« Über die Zeit der Vorbereitung der Entführung von Hanns Martin Schleyer schreibt sie: »Noch weiß ich nicht viel, aber ich spüre die Spannung, die in der Luft liegt.« Über einen mehrmonatigen Aufenthalt in einem »Palästinenserlager« im Jemen, also einem Camp in der Wüste, in dem Terroristen leben und trainieren, berichtet sie: »Das Leben der Einheimischen ist weit entfernt von dem, was wir hier tun. Sie haben ihre Sorgen, wir unsere Diskussionen, Schießübungen und Probleme … Eine bizarre Romantik liegt in der Luft, einmal schießen wir sogar nachts.« Bei Maier-Witt, die sich während dieser militärischen Schulung in einen jungen Palästinenser verliebt, klingt das, als erzähle sie von ihrem ersten Schullandheimaufenthalt: »Ich bin für ihn die erste Frau, es ist schön … Gemeinsame Nächte auf Wache, die Kalaschnikow neben uns, der Sternenhimmel über uns. Wir sind romantisch verliebt. Scheue Zärtlichkeit, kleine Geschenke, Geheimnisse, verstohlene Berührungen, wenn die anderen dabei sind.«

Glaubt man diesem Buch, scheint es in der RAF so entspannt zugegangen zu sein wie bei Uschi Obermaier und Rainer Langhans zu Hause.

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In dieser teils echte, unverstellte Naivität offenbarenden, teils unfreiwillig komisch wirkenden Sprache à la Regenbogenpresse ist das halbe Buch geschrieben. Hie und da werden kleine Anekdoten eingeflochten, in denen es menschelt und die beim Leser für Amüsement sorgen sollen. Maier-Witt erzählt beispielsweise von dem Versuch, die Umgebung des Wohnhauses des ehemaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher auszuspionieren: »Und dann wird uns klar: Wir brauchen einen Hund! Mit dem geht man spazieren und das regelmäßig, der schnüffelt herum, mit ihm kann man auch mal stehen bleiben. So also kommt Rudi Ratlos aus dem Tierheim zu uns, ein Dackelmischling … mit seinen kurzen Beinen hat er große Schwierigkeiten, in den Zug einzusteigen. Auf den Stufen rutscht er immer mal wieder ab. Rudi Ratlos erhält seinen Nachnamen wegen seines Gesichtsausdrucks. Er leistet beim Auschecken des Genscher-Bungalows gute Dienste.« So wie das da steht, könnte es auch der »Bunten« oder der »Bild«-Zeitung entnommen sein.

Vielleicht erklären sich Machart, Wortwahl und der emotionalisierende, teils ziemlich kitschige Tonfall des Buches durch die Mitwirkung eines Ko-Autors. André Groenewoud, der ihr beim Abfassen ihrer Erinnerungen zur Seite stand, war früher unter anderem als Redakteur und »Chefreporter« für die Illustrierte »Bunte« tätig.

Silke Maier-Witt/André Groenewoud: Ich dachte, bis dahin bin ich tot. Meine Zeit als RAF-Terroristin und mein Leben danach. Kiepenheuer & Witsch, 384 S., geb., 26 €.

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