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Minischritt für Arbeitsrechte im Knast
Urteil Bundessozialgericht: Freie Tage hinter Gittern können für Arbeitslosengeld angerechnet werden
»Das Bundessozialgericht hat nichts Halbes und nichts Ganzes entschieden«, befindet Britta Rabe, Knastreferentin der Bürgerrechtsorganisation Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., im Gespräch mit »nd«. Für den Kläger war das Urteil am Dienstagabend jedenfalls erleichternd: Er hat rückwirkend Anrecht auf vier Monate Arbeitslosengeld. Da es sich um ein Urteil des Bundessozialgerichts in Kassel handelt, muss es künftig, mit Einschränkungen, auch in den restlichen Ländern berücksichtigt werden.
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hatte die Auszahlung des Entgelts nach der Entlassung des Mannes aus einer bayerischen Justizvollzugsanstalt wegen »Nichterfüllung der Anwartschaftszeit in Ermangelung hinreichender Tage mit Versicherungspflicht« abgelehnt. Freie Tage wegen Arbeitsunfähigkeit, Betriebsruhe sowie »Arbeitsmangel« muss die BA nun einberechnen und entsprechend Arbeitslosengeld auszahlen.
Der sogenannte Arbeitsmangel ist dabei der springende Punkt. Zwar herrscht in Justizvollzugsanstalten laut Artikel 12 des deutschen Grundgesetzes – mit Ausnahme von Brandenburg und Rheinland-Pfalz – immer noch »Arbeitszwang«, so der offizielle Terminus. Inhaftierte sollen zum Zweck ihrer Resozialisierung arbeiten und gelten demnach vor dem Gesetz nicht als klassische Arbeitnehmer*innen. Zugleich lässt sich Vollbeschäftigung aber in vielen Justizanstalten nicht umsetzen.
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Die aktuellsten Zahlen, die Rabe zur Verfügung stehen, sind von 2008. Damals konnten bis zu 37 Prozent der Gefangenen nicht arbeiten, weil es kein Angebot gab – eben Arbeitsmangel. Solange dieser nicht Teil der Anwartschaftszeit war, verloren Inhaftierte in solchen Fällen den Anspruch auf Arbeitslosengeld. »Inhaftierte kommen häufig aus prekären Situationen. So wird es ihnen noch schwerer gemacht, da herauszukommen«, sagt Rabe. In anderen Worten: Der Resozialisierungsanspruch wird durch bestehende Gesetze vereitelt.
Das soll sich nun ändern, allerdings in eingeschränktem Maße. Die Zuweisung an ein Gefängnis stelle das Pendant zu einem Arbeitsvertrag her, so das Bundessozialgericht. Die freien Tage werden jedoch nur einberechnet, wenn sie jeweils vier Wochen am Stück nicht überschreiten. Auch muss nach der Inhaftierung eine »Zuweisung zu einer bestimmten Tätigkeit« erfolgt sein.
»Würde der Gesetzgeber Inhaftierte als Arbeitnehmer anerkennen, würde das System der Ausbeutung und Unterbezahlung zusammenbrechen.«
Britta Rabe
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
Das Urteil des Bundessozialgerichts habe die Situation deswegen nicht als Ganzes gelöst, befindet Rabe: »Würde der Gesetzgeber Inhaftierte als Arbeitnehmer anerkennen, würde das System der Ausbeutung und Unterbezahlung zusammenbrechen.« Rabe nennt das eine »doppelte Bestrafung«, zusätzlich zum Freiheitsentzug.
Dies ist insofern spannend, als dass das Bundessozialgericht im Entscheid zur Anwartschaftszeit damit argumentiert, dass das Strafvollzugsgesetz von 1977 die Gleichstellung der Beschäftigung Gefangener mit jener am allgemeinen Arbeitsmarkt vorsieht. So wie die freien Tage bisher eine Grauzone darstellten, zählen viele weitere arbeitsrechtliche Regelungen hinter Gittern nicht. So greift beispielsweise der Mindestlohn nicht. Die Entlohnung in Justizvollzugsanstalten ist Ländersache und entspricht im bundesweiten Mittel ungefähr einem Zehntel des Durchschnittsgehalts.
Auch sind Inhaftierte nicht rentenversichert. Da Haftjahre nicht als Arbeitsjahre zählen, sinken die Renten eklatant. Besonders prekär ist die Situation für Langzeitinhaftierte, die dadurch zu wenige Arbeitsjahre haben, um überhaupt Rente zu beanspruchen. Für die Berechnung der Erwerbsminderungsrente zählen außerdem die letzten Erwerbsjahre. Sie entfällt, wenn in diesen Jahren keine Beiträge gezahlt werden. Altersarmut ist für Inhaftierte also ein deutlich größeres Risiko als für die restliche Bevölkerung.
»Prinzipiell ist es traurig, dass die Arbeitslosenversicherung der einzige Sozialbetrag ist, der im Gefängnis abgeführt wird«.
Manuel Matzke Gefängnisgewerkschaft Bundesweite Organisation
»Prinzipiell ist es traurig, dass die Arbeitslosenversicherung der einzige Sozialbetrag ist, der im Gefängnis abgeführt wird«, resümiert auch Manuel Matzke von der Gefängnisgewerkschaft Bundesweite Organisation die Situation gegenüber »nd«. Das neue Urteil sei dementsprechend aber »ein Schritt in die richtige Richtung und wichtig«.
In den vergangenen Jahren gab es einige Durchbrüche in Hinblick auf Arbeitsrechte in und nach der Haft. So entschied das Bundesverfassungsgericht 2023, dass der Gefängnislohn in Bayern und Nordrhein-Westfalen, damals ein Stundenlohn zwischen 1,38 und 2,29 Euro, verfassungswidrig ist.
Der Anspruch, dass Gefangene sich an den Kosten des Vollzugs beteiligen sollten – zum Beispiel am Betrieb elektronischer Geräte, an Gesundheitsleistungen oder Suchtmitteltests –, zusätzlich gerichtlich auferlegten finanziellen Verpflichtungen nachzukommen hätten und dabei einen Behandlungserfolg erzielen sollten, beurteilte der Gerichtshof als »widersprüchlich und realitätsfern«.
Alle Länder haben nun bis Sommer 2025 Zeit, um Resozialisierungskonzepte mit einer angemessenen Vergütung zu entwerfen. Anfang Dezember legte der nordrhein-westfälische Landtag vor: In dem Bundesland sollen Inhaftierte zehn Euro mehr als zuvor pro Tag verdienen, mehr freie Tage erhalten und durch Arbeit einen Teil der ihnen auferlegten Kosten erlassen bekommen. Keine Gleichstellung, aber immerhin ein Fortschritt, befindet Rabe.
2018 hatte sich zudem die Justizministerkonferenz erstmals für eine Rentenvergütung von Haftjahren ausgesprochen. Reformkonzepte gibt es seit 1976, weder der Bund noch die Länder wollen die Kosten tragen. Die Ampel-Regierung hatte eine bundeseinheitliche Regelung im Koalitionsvertrag vorgesehen. Diese ging sie aber bis zu ihrem Bruch nicht an.
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