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Scham, Schuld, Empathie? Von wegen.
Wie Menschen manipuliert werden, um Kriege zu führen. Notizen von einer Tagung der Rapoport-Gesellschaft in Berlin
Warum unterwerfen sich Menschen, ja ganze Bevölkerungsteile, blindlings Kriegshysterie, übernehmen und verinnerlichen Feindbilder, ohne nachzudenken, ohne diese zu hinterfragen, und sind sogar selbst bereit, Verbrechen zu begehen? Diesen Fragen ging die letzte diesjährige Tagung der Rapoport-Gesellschaft, benannt nach dem international renommierten Ärzte- und Forscherehepaar Samuel »Mitja« und Ingeborg Rapoport, nach. Der Psychoanalytiker Christoph Seidler las aus seinem Buch mit dem prägnanten Titel »Warum nur Krieg?« und erläuterte seine Erkenntnisse, wie Massen manipuliert werden. Dabei stützte er sich auf Vordenker wie den britischen Politiker und Publizisten Baron Arthur Ponsonby of Shulbrede, der bereits 1928 »Strukturgesetze der Kriegspropaganda« formulierte. Von jenem stammt übrigens auch das berühmte Diktum, dass das erste Opfer des Kriegs die Wahrheit ist: »When war is declared, truth is the first casualty.«
Mithilfe der Strukturgesetze des britischen Barons könne man sich psychosozialen Mechanismen nähern, so Seidler: Der Gegner, insbesondere dessen Führer, wird verteufelt. Das gegnerische Lager trage die Verantwortung für den Krieg, den man selbst nicht gewollt habe. Der Feind kämpfe mit unerlaubten Waffen und begehe absichtlich Grausamkeiten, während einem selbst solche höchstens versehentlich unterlaufen. Die eigenen Verluste an Menschen und Material werden verharmlost, die des Gegners überhöht. Man beschwört eine heilige Mission, die einem auferlegt sei und die von anerkannten Künstlern und Intellektuellen unterstützt werde. An der eigenen Berichterstattung sei nicht zu zweifeln, die des Gegners hingegen strotze vor Lügen.
Diese vom Baron vor fast einem Jahrhundert offengelegten Regeln der Manipulation gelten nach wie vor. Um Emotionen zu schüren, wird vor allem auf zivile Opfer hingewiesen; vom Gegner attackierte Krankenhäuser erhöhen den psychischen Druck auf das eigene Volk, sich wie gewünscht zu positionieren. Das Leben der Soldaten zählt weniger.
Von einer »Soldaten-Matrix« spricht der israelischen Psychologe Robby Friedman. Matrix ist ein Beziehungsgeflecht, das jeden Menschen in ein psychosoziales Netzwerk mit anderen Menschen und der Gesellschaft einbindet. Wenn junge Männer zum Militärdienst eingezogen werden, geben sie nicht nur ihren Ausweis und ihre Zivilkleidung ab, sie werden in eine militärische Struktur der Untergebung gezwungen. Das Töten des Feindes wird ihnen als Aufgabe und Pflicht gelehrt. Aggressionshemmende Gefühle wie Scham, Schuld und Empathie sind unerwünscht.
Wenn die jungen Männer dann wieder ins Zivilleben zurückkehren, verschwinden ihre Erfahrungen und ihre Identifikation als Soldaten nicht, sie tauchen in den Bodensatz der Seele ab und verweilen dort bis zu einer »Zeitenwende«, die die Hierarchie der humanen Werte wieder umkehrt und aus Männern erneut »Helden« oder eben auch Mörder macht.
Zur Soldaten-Matrix gehören nach Friedman auch »die Delegierer, die Staatsmänner, die professionellen Kriegstreiber, die sensationslüsternen Journalisten, die Väter, die opferbereiten Mütter, die stolzen Bräute, die vielen Mitläufer, alle …« Der israelische Psychologe hat das Geleitwort zu Seidlers Buch verfasst. Darin offenbart er, wie viele Jahre er selbst nach seiner Kriegsteilnahme gebraucht habe, bis er sich mit Palästinensern zusammensetzte und den Dialog suchte – »bis ich einem Feind meine Hand reichen konnte«.
Erwartungsgemäß war die Darbietung von Seidler Zündstoff für die Debatte. Hingewiesen wurde auf soziale, klassenmäßige Ursachen von Kriegen, der Nutzen von psychoanalytischen Erkenntnissen in Zweifel gezogen. Und inwieweit sind sie hilfreich bei der Bewertung von bewaffnetem Widerstand gegen Aggressoren und Okkupanten wie beim Warschauer Gettoaufstand 1943 oder dem im Jahr darauf folgenden Aufstand polnischer Patrioten?
Ein neues Themenfeld eröffnete die Agrarmeteorologin Marianne Linke, ehemalige Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern. Sie sprach über die Auswirkung von Rüstung und Krieg auf die Umwelt, ein von der Politik gern verschwiegenes Problem. Das weltweite Militär mit insgesamt 28 Millionen Soldaten und ungezählter schwerer Technik rangiere auf der Liste der CO2-Sünder nach China, den USA und Indien an vierter Stelle, gefolgt von Russland und Japan. Jeder Soldat in Kampfbereitschaft produziere zwischen 66 und 139 Tonnen Kohlendioxid. Ein Gepard, der vier Stunden im Einsatz ist, stoße 1422 Kilogramm Kohlendioxid aus. Den Bürgern werden hohe Auflagen und CO2-Steuern auferlegt, nicht jedoch dem Militär, kritisierte Marianne Linke.
Christoph Krämer, langjähriges aktives Mitglied der deutschen Sektion der Internationalen Ärzte und Ärztinnen für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), berichtete über deren aktuelle Aktionen. Konsequent und kompetent setze man sich für eine Beendigung des Krieges in der Ukraine und in Nahost ein, für Waffenstillstand und Verhandlungen. Der Vorsitzende des Deutschen Friedensrates Herbert Fuchs-Kittowski wiederum informierte über die Aktivitäten seiner Organisation, die ihre historischen Wurzeln im Friedensrat der DDR und im Weltfriedensrat habe.
Einstimmig nahmen die Tagungsteilnehmer sodann eine Erklärung an: »Kriegstüchtig – Nein! Friedensfähig – Ja!« Sie richtet sich gegen die Stationierung von US-Mittelstreckensystemen in der Bundesrepublik sowie gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete und plädiert für verstärkte Bemühungen um diplomatische Lösungen.
Mit Friedensliedern beendeten Hartmut König, ehemaliger Frontmann des Oktoberklubs, und Daniel Rapoport, Enkel von Inge und Mitja Rapoport, die ertragreiche Tagung im Konferenzsaal des Bildungsvereins Helle Panke in Berlin.
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