Bizarre Blutsauger und langweilige Legenden

Das Beste und das Schlimmste, das dieses Jahr über unsere Bildschirme flimmerte, in loser Reihenfolge

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
»Der Upir« mit Rocko Schamoni und Fahri Yardim: Vampirgeschichten mal anders
»Der Upir« mit Rocko Schamoni und Fahri Yardim: Vampirgeschichten mal anders

Wenn die Welt dem Abgrund entgegentaumelt, ist das Fernsehen wahlweise Flucht oder Konfrontation, also relevant oder eskapistisch und selten gar beides. 2023 war das vor allem mit Mystery, Coming-of-Age, Empowerment oder Fake-Dokus der Fall. Und 2024? Ebenso mit Mystery, Coming-of-Age, Empowerment oder Fake-Dokus, aber zuzüglich Vampiren, die Zombies als TV-Beißer ablösen, allerdings längst nicht so zubeißen wie empowerte Frauen. Das zeigen die elf bemerkenswertesten Fernsehereignisse (positiv wie negativ).

Platz 11:
»Ripley«, Netflix

Ein probates Mittel eskapistischer Ästhetik ist zu Farbfilmzeiten Schwarz-Weiß. In diversen Grauschattierungen hat Autor und Regisseur Steven Zaillian zuletzt Patricia Highsmiths »Der talentierte Mr. Ripley« auf Serienformat gebracht, und siehe da: Andrew Scott als mordender Hochstapler Thomas Ripley ist so hinreißendes Flucht-Entertainment, dass die Welt ringsum acht Folgen lang zum Stillstand kommt.

Platz 10:
»Becoming Karl Lagerfeld«, Disney+

Wer erzählerische Dramatik der Form unterordnen will, findet kaum besseren Stoff als die Haute Couture. Gleich drei Serien haben sich deshalb Modemachern gewidmet. Neben Diors »The New Look« und »Cristóbal Balenciaga« auch Karl Lagerfeld, den Daniel Brühl als profilneurotisches Genie mit einer Grandezza spielt, als wäre sie vom Meister selbst kreiert.

Platz 9:
Carsten Sostmeier, ARD

»Tänzerisch leicht wie das Lichtspiel einer Kerze, welches sich in einer sanften Brise elegant hin- und herbewegt«, so hat der ARD-Reporter Carsten Sostmeier keinen Lyrik-Wettbewerb kommentiert, sondern das olympische Dressurreiten in Paris – und dem Sport anmutige Augenblicke der vielleicht letzten sorglosen Sommerspiele geschenkt.

Platz 8:
»Maxton Hall«, Prime Video

»Dark«, »Barbaren«, »Liebes Kind«, »Die Kaiserin«: Serien »Made in Germany« sind auch global gefragt, stehen aber im Schatten von »Maxton Hall« – einer geistig schlichten, physisch saftigen New-Adult-Schmonzette, die Amazons Click-Rekorde bricht. Immerhin müssen deutsche Darsteller wie Damian Hardung dank solcher Erfolge im Ausland nicht mehr ständig NS-Uniform tragen.

Platz 7:
»Shōgun«, Disney+

Als Richard Chamberlains Kapitän Blackthorne 1982 im ZDF anno 1600 Japan ansegelte, war es ein einziges Rätsel. Daran hat sich weder 42 noch 424 Jahre später was geändert. Wie groß die Faszination der fernöstlichen Hochkultur ist, zeigt jedoch Rachel Kondos Serien-Remake von »Shōgun« – ein bildgewaltiges Meisterwerk, das völlig zu Recht 18 Emmys gewann.

Platz 6:
Stefan Raab, RTL+

Als Stefan Raab Mitte September gegen im Kampf gegen Regina Halmich Dresche bezog, war unklar, ob das nur ein Vorgeschmack auf weitere, viel härtere Prügel war. Schon das zweite Comeback, »Du gewinnst hier nicht die Million«, bekam von Kritik und Quote konsequent aufs Maul und zeigt eindrücklich: Legende schützt vor Langeweile nicht. Alter noch weniger.

Wenn die Welt dem Abgrund entgegentaumelt, ist das Fernsehen wahlweise Flucht oder Konfrontation.

Platz 5:
»Der Upir«, Joyn

Jahrelang waren die Bildschirme voller Zombies und gaben der Apokalypse ein zerfleddertes Antlitz. 2024 wurden sie von Vampiren verdrängt, die meist heiß waren wie im ZDF-Theater »Love Sucks«. Manchmal aber auch skurrile Loser wie »Der Upir« mit Rocko Schamoni und Fahri Yardim als Blutsauger, die jede Filmregel brechen, aber gerade deshalb glänzen.

Platz 4:
»Zeit Verbrechen«, RTL+

Wie traurig Paramounts Rückzug von deutscher Fiktion ist, zeigt kein Format mehr als »Zeit Verbrechen«. Vier Regisseure haben dafür Episoden des erfolgreichen Podcasts verfilmt. Und allein schon Helene Hegemanns Milieustudie jugendlicher Gewalt wäre jeden Fernsehpreis wert gewesen. Gemeinsam liefern sie den Beweis: Krimi geht auch ohne Klischees.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Platz 3:
»Schwarze Früchte«, ARD-Mediathek

Langsam werden marginalisierte sogar dann sichtbar, wenn sie wie Lamin Leroy Gibba mehrfach diskriminiert werden. Dafür musste die schwule Person of Color ihre Coming-of-Age-Serie zwar selbst produzieren. Auch deshalb dürfen seine »Schwarzen Früchte« jedoch voller Abgründe sein – und dennoch ungeheuer liebevolle, liebenswerte Seriencharaktere.

Platz 2:
»Angemessen Angry«, RTL+

Was macht frau mit Tätern in einer Gesellschaft, die sexuellen Missbrauch ächtet, aber nicht ahndet? Marie Blochings Zimmermädchen Amelie schreitet dank magischer Kräfte blutig zur Selbstjustiz. Damit reiht sie sich nicht nur »angemessen angry« in weibliche Selbstermächtigungen wie »Sexuell verfügbar« (ARD) ein, sondern ist trotz aller Brutalität brüllend komisch.

Platz 1:
»Die Zweiflers«, ARD-Mediathek

Jüdisches Leben wird meist nur auf zwei Arten erzählt: ganz ohne Holocaust (»Alles auf Zucker«) oder unbedingt mit (alles Übrige). David Haddas Porträt der fiktiven Frankfurter Feinkostsippe »Die Zweiflers« schafft es, historischen Ausnahmezustand und aktuellen Alltag so zu vereinbaren, dass daraus die lustigste, ernsteste, tiefste, leichteste Serie 2024 wurde.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -