»Ich habe einen Teil von mir noch nicht ausgelebt«

Als Mohammad Rasoulof den Film »Die Saat des heiligen Feigenbaums« heimlich im Iran drehte, wusste er nicht, dass er die deutsche Oscar-Hoffnung wird.

Wie kollabiert ein System? Die jungen Töchter (Mahsa Rostami und Setareh Maleki) eines Justizbeamten beginnen, ihren Vater und dessen Taten zu hinterfragen.
Wie kollabiert ein System? Die jungen Töchter (Mahsa Rostami und Setareh Maleki) eines Justizbeamten beginnen, ihren Vater und dessen Taten zu hinterfragen.

Mohammad Rasoulof konnte gerade noch den Dreh von »Die Saat des heiligen Feigenbaums« zu Ende bringen, bevor er im Iran wegen »Verschwörung gegen die nationale Sicherheit« zu acht Jahren Haft und Auspeitschung verurteilt wurde. Er musste schnell aus seinem Heimatland fliehen. Auch einige der Darstellerinnen des Films mussten es tun. Der Film erzählt von einem Ermittlungsrichter in Teheran, der während des »Frau-Leben-Freiheit«-Aufstandes im Iran Misstrauen und Paranoia gegenüber seiner eigenen Familie entwickelt.

Herr Rasoulof, Sie haben im Frühling dieses Jahres den Iran verlassen. Wie verläuft Ihr Leben seitdem?

Es ist viel passiert seitdem und alles so schnell, dass ich manchmal denke, dass alles vor fünf oder sechs Jahren geschehen ist. Es fühlt sich an, als wäre ich in der Zeit verloren. Zwischen der Entscheidung, den Iran zu verlassen, und meiner Ankunft in Deutschland sind nur 28 Tage vergangen. Das ist eine relativ kurze Zeit, und von diesen 28 Tagen wartete ich etwa 20 Tage nur darauf, dass meine Identität nachgewiesen wird und meine Papiere und Reisedokumente ausgestellt werden. Die deutsche Regierung hat mir dabei sehr geholfen.

Und nachdem ich hier angekommen war, war ich erst so sehr mit der Postproduktion meines Films und danach mit den Festivals beschäftigt, dass ich noch nicht richtig begriffen habe, was genau passiert ist. Die meiste Zeit bin ich seitdem auf Reisen. Lassen Sie mich daher Ihre Frage, wie mein Leben jetzt aussieht, etwas später beantworten (lacht)!

Interview

Mohammad Rasoulof wurde 1973 in der iranischen Stadt Schiras geboren. Während seines Soziologiestudiums begann er, Dokumentar- und Kurzfilme zu drehen. Wegen seiner Filme kam er stets in Haft. Viele seiner Werke, die er ohne Erlaubnis iranischer Behörden drehte, wurden zwar in seinem Land öffentlich nicht vorgeführt, aber außerhalb des Iran gefeiert und mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Sein Film »Doch das Böse gibt es nicht« gewann 2020 den Goldenen Bären der Berlinale. Sein jüngster Film »Die Saat des heiligen Feigenbaums« erhielt dieses Jahr im Wettbewerb des Cannes-Filmfestivals den Spezialpreis der Jury. Er ist außerdem als deutscher Kandidat auf der Shortlist für den besten internationalen Film der Oscars 2025. Rasoulof wohnt momentan in Hamburg und Berlin.

Sie waren kurz nach Ihrer Flucht aus dem Iran auf dem Cannes-Filmfestival. Während sich andere Gäste vielleicht eher damit beschäftigt haben, was sie sich für den roten Teppich anziehen sollen, waren Sie wohl damit beschäftigt, wie Sie die Grenzen des Iran überwinden können. Wenn Sie jetzt auf jenen Moment zurückblicken, was empfinden Sie?

Meine erste Beschäftigung war ehrlich gesagt, überhaupt den Film zu Ende zu bringen, weil ich die ganze Zeit dachte, es gelingt mir eh nicht. Dieses Gefühl hatte jedoch auch einige Vorteile. Vor allem erlaubte ich mir bei diesem Film eine komplette künstlerische Freiheit, denn ich meinte, wenn sie mich am Ende wegen dieses Films festnehmen wollen, dann habe ich zumindest alles so gemacht, wie ich es machen wollte. Deswegen war ich sehr spielerisch mit den Genres und mit der Form dieses Werkes. Andere Werke von mir haben eher eine festgelegte Form.

Kurz nach den Dreharbeiten kam das Gerichtsurteil, in dem ich zu acht Jahren Haft verurteilt wurde. Da hatte ich keine Zeit mehr, musste mich schnell entscheiden zwischen Gefängnis und Exil. Und Gefängnis bedeutet für jemanden wie mich die Akzeptanz der Opferrolle, dass ich akzeptiere, Opfer des Systems der Zensur und Unterdrückung zu sein. Und ich wollte nicht Opfer sein. Der Sinn meines langjährigen Kampfes gegen dieses System war überhaupt, dass ich die Opferrolle nicht annehmen wollte. Den Gedanken hatte ich schon während der kürzeren Aufenthalte im Gefängnis: dass ich den Iran verlasse, wenn eine langjährige Haft droht. Denn ich möchte weiterarbeiten und meine Geschichten weitererzählen.

Sie haben in vielen Pressekonferenzen zu »Die Saat des heiligen Feigenbaums« erzählt, dass Ihnen die Idee zu diesem Film im Gefängnis kam. Auch dass Sie im Gefängnis Menschen kennenlernten, die Ihnen bei der Flucht halfen. Es ist seltsam: Das Gefängnis hat Ihnen sowohl die Idee des Films als auch die Wege zur Flucht gegeben.

So ist es, wenn man aus Schwierigkeiten Schönheiten entstehen lässt, aus den hoffnungslosen Situationen Hoffnung, aus dem Problem Lösung. So funktioniere ich. Das Gefängnis hat mir Großes beigebracht, was nicht heißen soll, dass ich das Gefängnis verherrliche. Wichtig ist, wie man mit der Situation umgeht. Dass ich heute hier sitze, ist die Folge jener Tage, weil ich dort Menschen kennengelernt habe, die mich aus dem Iran schleusen konnten. Wäre ich nicht im Gefängnis gewesen, wäre es für mich wesentlich schwieriger gewesen, solche Leute zu finden.

Was genau im Gefängnis hat Sie denn zu dieser Geschichte inspiriert?

Während des Frau-Leben-Freiheit-Aufstandes im Iran war ich in Haft (Es war das Jahr 2022, Anm. d. Red.). Damals war auch Herr Panahi (der iranische Regisseur Jafar Panahi, Anm. d. Red.) dort. Wir verfolgten die Geschehnisse im Land aus dem Gefängnis. Allein, wie wir im Knast versuchten, informiert zu bleiben, ist eine Geschichte wert. Das hatte schon ein Drama-Potenzial an sich. Wir bekamen eher von dem Verhalten und den Reaktionen der Wärter mit, was da draußen los war. Sonst stand uns nur noch der staatliche Rundfunk zur Verfügung, dem wir ja keinen Glauben schenkten. Abgesehen davon beschäftigte mich in den letzten 15, 16 Jahren, in denen es ständig zu Reibungen mit den Geheimdienst- und Justizbehörden kam, eine Frage: wie dieser Mensch, der mir gegenüber sitzt, überhaupt denkt oder funktioniert. Er sieht ja nicht monströs aus. Also das Verhältnis zwischen dem Macht-System und dessen Anhängern, die dem blind gehorchen, war immer ein Thema für mich, über das ich längst ein Drehbuch schreiben wollte. Und ich beobachtete während der jahrelangen Begegnungen mit den Verhör-Beauftragten, Ermittlern und Richtern dieses Systems, wie diese funktionierten. Bis eines Tages, es war der Höhepunkt der Frau-Leben-Freiheit-Proteste, ein Team hochrangiger Justiz- und Geheimdienstmitarbeiter das Gefängnis besuchte, weil ein politischer Gefangener in den Hungerstreik getreten war. Einer von denen kam unbeobachtet zu mir, überreichte mir einen Kugelschreiber und sagte, es tue ihm sehr leid, mich im Gefängnis zu sehen. »Jeden Tag frage ich mich«, gestand er, »wann der Tag kommt, an dem ich mich hier erhänge, so sehr schäme ich mich dafür, in diesem System zu arbeiten.« Er erzählte, seine studierenden Kinder fragten ihn stets, was er und seine Kollegen jeden Tag begehen. Da kam mir der Einfall, die Geschichte einer Familie zu erzählen, in der es zur Spaltung zwischen Kindern und Eltern kommt.

Der Ermittlungsrichter (Misagh Zare) erhält eine Dienstwaffe zu seinem Schutz. Seine Frau (Soheila Golestani) soll diese verstecken.
Der Ermittlungsrichter (Misagh Zare) erhält eine Dienstwaffe zu seinem Schutz. Seine Frau (Soheila Golestani) soll diese verstecken.

Dieser Film hatte bis jetzt einen großen internationalen Erfolg, wurde dieses Jahr auf den renommierten Festivals wie Cannes, Locarno und San Sebastian gefeiert. Zudem wurde er als deutscher Oscar-Beitrag ausgewählt. Wie war diese Nachricht für Sie?

Es war wie ein Lottogewinn. Ich dachte ja nie an Oscars, denn ich arbeitete im Iran und wusste, den Oscar-Beitrag wählt die Regierung des Iran, und sie wählt Filme, die zumindest politisch für sie harmlos sind. Als mein Film dann in Deutschland als deutscher Beitrag eingereicht wurde, war ich echt erstaunt, wie offen eine Gesellschaft und diejenigen, die diese Entscheidung treffen, sein können. Wie eine tiefere Bedeutung von Kultur die Idee von Geografie überwiegen kann. Das war sehr inspirierend für mich.

Es gab viel Unterstützung für diese Entscheidung in der deutschen Film-Branche, aber auch Kritik. Haben Sie auch etwas davon mitbekommen?

Ja, ich habe auch gehört, dass einige damit nicht glücklich sind. Das ist auch selbstverständlich, dass in einer offenen Gesellschaft alle ihre Meinung äußern. Jedenfalls gelte ich nun als Deutscher (lächelt), und der Film ist auch hauptsächlich eine deutsche Produktion.

Wie haben Sie den Film gedreht?

Bis zum Ende der Dreharbeiten gab es nicht mal einen richtigen Produzenten, nur eine mündliche Vereinbarung, weil wir nicht einmal wussten, ob wir überhaupt zu Ende drehen können. Wir haben mit einem sehr kleinen Team gedreht, ich war nie am Set, habe zur Sicherheit aus der Ferne Regie geführt, weil das Set jederzeit von den Behörden durchsucht werden konnte. Wir hatten sogar einen Plan B: Sobald fremde Leute in der Nähe vom Drehort waren, wechselte das Team zu einem anderen Film mit einem anderen Regisseur.

Begeistert Sie die Vorstellung, dass Sie nun in Sicherheit und in Freiheit, ohne Angst vor Verhaftung und Verhör, ohne Zensur, vielleicht mit größeren Teams Filme drehen können?

Das ist eine sehr gute Frage. Ich weiß es wirklich nicht, weil ich jahrelang gelernt habe, unter Druck kreativ zu sein. Manchmal machen meine Freunde Witze und sagen, sie könnten mir die Drucksituation simulieren! (lacht) Das ist nun eine große Prüfung für mich. Es fühlt sich so an: Man kann schon schwimmen, aber man ist noch nie im Ozean geschwommen. Ich empfinde eine Mischung aus Freude und Angst.

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Ändern sich die Storys, die man erzählt, wenn man woanders lebt?

Es kann schon so sein. Die Marktfrage stellt sich immer, denn das Kino ist eine teure Kunst. Die Filmproduktion hat ihren eigenen Weg. Entscheidend ist, was für einen Weg du wählst, um eigenständig zu arbeiten. Im Moment habe ich drei Projekte am Laufen, es gibt zudem einige Vorschläge aus den USA und so weiter. Aber für mich war meine Arbeit bis jetzt nicht nur das Filmemachen an sich, denn die Umstände, unter denen ich arbeitete, waren immer politisch. Nichts ist unpolitisch im Iran. Sogar wenn die Frauen ihre Haare blau färben, ist das ein politischer Akt, klingt komisch, ist aber so. Weil so die Obrigkeit ihre Ideologie in Gefahr sieht. Nie war das Haar der Frau in der Geschichte des Iran so politisch wie jetzt. Ich muss also abwarten, wie sich meine Geschichten außerhalb des Iran entwickeln.

Sie waren eine*r der wenigen Regisseur*innen im Iran, die nie behaupteten, unpolitisch zu sein. Viele Ihrer Kolleg*innen bevorzugten, keine politische Position zu beziehen und alles, was sie zu sagen hatten, eher indirekt in ihren Filmen auszudrücken – durch die Blume halt.

In einem autoritären System gibt es nichts Unpolitisches. Sogar eine unpolitische Position ist politisch, weil man sich so im Sinne der Macht verhält. In solch einem System gibt es auch keine unpolitische Kunst. Wenn jemand sagt, ich bin unpolitisch, heißt es, bitte lasst mich in Ruhe, ich will nur mein Brot verdienen. Die Frage ist, wie viel persönliche Verantwortung man in einer diktatorischen Situation tragen will. Natürlich hätte ich es bevorzugt, unbeschwerter Filme zu machen, wäre ich lieber eine »normale« Person gewesen. Aber meine Weltanschauung lässt nicht zu, dass meine Umgebung mir gleichgültig ist. Ich will ja bloß meinen Film drehen, doch dann werde ich zu einem politischen Regisseur, nur weil ich versuche, dass meine Geschichten der Realität nahekommen. Ich habe früher auch metaphorische Werke produziert, aber eines Tages wurde mir klar, dass es im Sinne des Systems ist, Sachen durch Metaphern auszusprechen, dass es Selbstzensur ist.

Die Diktatur im Iran hat ja eine längere Geschichte als nur die letzten 46 Jahre. Sie hat im Laufe der Zeit eine eigene Ästhetik entwickelt, die einem dazu rät, unpolitische Kunst zu schaffen, die einem zu verstehen gibt, dass politische Kunst nicht viel wert sei. Denn die Politik sei schmutzig, die Kunst hingegen erhaben. Also, nein danke! Ich möchte hier unten sein und über die Geschehnisse um mich herum erzählen. Diese Ästhetik, die ich autoritäre Ästhetik nenne, wird zum Kriterium in so einem System, und danach wird auch dein Werk beurteilt. Dem folgend bist du zu politisch, nur weil du das echte Leben erzählst, weil du alles Hässliche widerspiegelst.

Was machen Sie sonst, wenn Sie gerade nicht an einem Film arbeiten oder auf einem Festival sind?

Ha! Was für eine gute Frage! Ich lebe halt. (lacht herzlich!) Es gibt ja Milliarden von Galaxien abgesehen von unserer Milchstraße! Ich denke manchmal darüber nach, was für ein winziges Partikel man in dieser argen Unendlichkeit ist, möchte mich mit derartigen philosophischen, erkenntnistheoretischen Grundfragen beschäftigen, doch dann sehe ich, dass unser Alltag darin besteht, wer sein Kopftuch nicht richtig trägt oder wer wieder im Gefängnis sitzt. Das ist eine quälende Diskrepanz; du hast intellektuelle Fragen über das Leben, doch du musst auf der trivialen Ebene bleiben.

Ich bin normalerweise mit Lesen oder Schreiben beschäftigt, schaue mir Filme an oder höre Musik. Sport mache ich auch. Eine gute Beziehung habe ich zur Natur. Ich verbrachte im Iran viel Zeit mit jungen Filmemachern. Aber das alles ändert sich nun bestimmt. Natur hat eine andere Bedeutung für mich hier in Deutschland, ebenso die Beziehungen zu den anderen Regisseuren. Das Lesen, Schreiben, Musikhören, alles bekommt einen anderen Sinn.

Haben Sie einen Traum?

Die Freiheit des Iran. Schon jetzt sehne ich mich nach meinem Wohnort in Teheran, meinen Wohngewohnheiten dort, nach den Bergen. Ich war oft in den Bergen wandern. Mir fehlt es momentan etwa, dass Hamburg keine Berge hat. (lacht herzlich!) Ehrlich gesagt, das alles bedrückt mich oft, aber ich denke, ich muss mich damit arrangieren lernen, dass alles nicht so ist, wie man es haben will. Ich habe ja jahrelang wirklich versucht, im Iran zu leben. Letztes Mal war ich für sieben Jahre unter Reiseverbot, und letztlich musste ich das Land über die Berge verlassen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Situation im Iran normal genug gewesen wäre, sodass ich mich dort mit meinen weiteren Fragen über das Dasein hätte beschäftigen können; Fragen über das Leben, die Philosophie, die Liebe, die zwischenmenschlichen Beziehungen. Es gibt so viele Themen, über die ich nicht mal nachdenken, lesen oder Geschichten erzählen konnte, so sehr war es meine Priorität unter der Repression, für die Freiheit einzustehen. Ich habe einen Teil von mir noch nicht ausgelebt. Mein Traum ist, der Iran wäre frei, hätte ein Mindestmaß an Demokratie, sodass ich diesen Teil von mir ausleben könnte.

»Die Saat des heiligen Feigenbaums«: Deutschland, Frankreich, Iran 2024. Regie und Buch: Mohammad Rasoulof. Mit: Misagh Zare, Soheila Golestani, Mahsa Rostami, Setareh Maleki. 167 Min. Kinostart: 26. Dezember.

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