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Unwandelbare menschliche Natur?
Gedanken zur Zeit – von Thukydides, einem Vater der Geschichtsschreibung
Ich bin kürzlich wieder in Griechenland gewesen. Mein griechischer Gastgeber lud mich ein, das kleine historische Museum am Ort zu besuchen. Im Eingangsbereich blieben wir vor einer antiken Büste stehen: hohe Stirn, gelockter Vollbart, glasige Augen. Voller Hochachtung nannte mein Begleiter den Namen des Porträtierten: Thukydides!
Thuky-Wer? Mein ausdrucksloses Gesicht muss entlarvend gewesen sein. »Kennst du den etwa nicht?«, fragte mein Freund besorgt. »Unser wichtigster Geschichtsschreiber!« Das »Unser«, betonte er stolz. 400 Jahre vor Christus gab er mir noch mit auf den Weg. Und als Stichwort: Peloponnesischer Krieg, zwanzig Jahre lang Mord und Totschlag.
In meiner Herberge angekommen, stürze ich mich in die Tiefen des Internets. Ich brauche gar nicht tief zu scrollen, Schlagzeilen, Artikel und Zitate zuhauf. »Vater der Geschichtsschreibung«, lese ich, »wichtige Quelle für die Geschichte des antiken Griechenlands«, erfahre ich, und »Pionier der politischen Wissenschaft«. Geht noch mehr?! Thukydides wird als ein Vertreter des politischen »Realismus« bezeichnet, »in aller gebotenen Nüchternheit« habe er dargelegt, »dass zwischenstaatliche Beziehungen von Macht geprägt sind, nicht von Recht und Gerechtigkeit«. Sein achtbändiges Werk über den Peloponnesischen Krieg gelte »als eines der besten Geschichtswerke aller Zeiten«, heißt es. Bis heute beeinflussen seine Gedanken, Überlegungen und Strategien politische wie militärstrategische Debatten. »Vor allem in den USA während des ersten Golfkriegs und nach dem 11. September wurde er häufig zitiert«, wird im Eintrag einer britischen Universität betont. »Angesichts der jüngsten Spannungen im Nahen Osten (sei er) wieder in den Vordergrund gerückt.« Aber auch Yanis Varoufakis, der kurzzeitige linke griechische Finanzminister, habe sich auf ihn bezogen – als es zu Zeiten der vor allem Griechenland hart treffenden internationalen Finanzkrise galt, übermächtige Deutsche zu verstehen und gegen sie womöglich zu bestehen.
Und dann entdecke ich von Thukydides jede Menge weiser Sprüche, passend zu unserer kriegsertüchtigten Gegenwart. »Bedenkt auch, wie unberechenbar der Verlauf eines Krieges ist, bevor ihr euch noch in denselben einlasset«, gab er der Menschheit mit auf ihren weiteren Weg. Oder: »Mit vernünftiger Überlegung kommt man seinen Feinden gegenüber weiter als mit unverständigen Gewaltstreichen.« Und: »Böses darf man nicht nur denen zur Last legen, die es tun, sondern auch denen, die es nicht verhindern, obwohl sie dazu in der Lage wären.«
Schließlich gelange ich zu Thukydides’ Menschenbild. Er habe eine »unwandelbare menschliche Natur« beklagt: Ehrgeiz, Eigensucht, Habgier, Raffsucht. Und er scheint recht zu haben. Seine Heimat, die einst beschauliche Kykladeninsel, befindet sich seit zehn Jahren im Goldrausch. Dem Massentourismus zuliebe wird die Landschaft verwüstet. Irregeleitete Spekulanten und Investoren jagen durch die Gegend, um weitere Käufe im Schluss- und Ausverkauf zu tätigen. Die letzten Tuffsteinhöhlen, Naturwunder, werden trockengelegt, um sie – als »very special and traditional« – an Touristen in der Urlaubszeit zu vermieten.
Mehr als zwei Jahrtausende ist dieser Thukydides tot – und der Mensch scheint sich kaum gewandelt zu haben, gebärdet sich wie eh und je unvernünftig.
Neville Morley, der als einer der international bedeutendsten Experten für Thukydides gilt, veröffentlichte vor ein paar Jahren einen Aufsatz, in dem er nach den Gründen für die »Popularität« des antiken Geschichtsschreibers fragte. Der britische Professor wollte sich nicht recht festlegen, doch er kam zu dem Schluss, dass es gemäß den Erkenntnissen von Thukydides »kaum Anlass zur Hoffnung (gebe), was den Zustand der Welt betrifft«. Dies beträfe nicht nur die Kriege allerorten, sondern auch die gewachsenen Gefahren für die Demokratie und den Zerfall der Gesellschaften in konträre, einander bekämpfende Interessengruppen.
»Böses darf man nicht nur denen zur Last legen, die es tun, sondern auch denen, die es nicht verhindern.«
Thukydides
»Wenn Thukydides uns heute also etwas zu sagen hat«, schreibt Morley, »dann liegt das wohl daran, dass die Welt uns unberechenbar und fragil erscheint. Und dass wir auf der Suche nach einer Autorität sind, die die Gesetze hinter den Ereignissen verstanden hat und uns einen Ausweg aus der Gefahr zu weisen vermag.« Thukydides habe gemahnt, dass »wer immer Schwäche zeigt, dem Stärkeren unterliege« und »wer immer die Möglichkeit zu herrschen sieht, kein Verbrechen« scheue. In seinem achtbändigen Werk über den Peloponnesischen Krieg kommt Thukydides »auf die Natur des Menschen« zu sprechen. Kriegslogik drücke sich in einer Sprache aus, die sich wie eine Krankheit verbreite. Macht und Ohnmacht ergreife den Menschen, die ihn seiner Natur hilflos ausliefere. Vernunft, Tugend und Freiheit hätten dagegen keine Chance. Bleibt also tatsächlich nur Fatalismus?
Manche sagen heute, Thukydides sei ein »Kriegsbefürworter und Machtideologe«, schreibt der britische Fachmann, »andere wiederum halten ihn für einen Idealisten und Pazifisten, der, von den eigenen Kriegserfahrungen traumatisiert, alles daransetzte, zukünftige Kriege zu verhindern«. Wir können das nicht abschließend beantworten. Aber zum Nachdenken regt er noch heute an.
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