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Jimmy Carter: Karriere nach Dienstschluss
Ein Nachruf auf Jimmy Carter, Ex-US-Präsident, Brückenbauer, Diplomat und Friedensarbeiter
Als James Earl (»Jimmy«) Carter vor 43 Jahren das Weiße Haus verließ, galt der 39. US-Präsident als Versager. Der gelernte Farmer, U-Bootfahrer und Nuklearingenieur, der Poet, Laienprediger und Politiker aus dem Erdnussfarmerdorf Plains in Georgia hatte 1976 für die Demokraten zwar überraschend die Wahl gewonnen, war aber schon vier Jahre später wieder passé und wurde in der Politikbranche lange als Paradebeispiel eines Dilettanten geführt.
Am 1. Oktober 2024 war der Hochbetagte, der wegen einer Krebserkrankung und diverser Altersgebrechen seit Längerem Hospizpflege erhielt, einen Monat vor den US-Präsidentschaftswahlen am 5. November, 100 geworden. Bis dahin, so hatte seine Familie damals der Zeitung »Atlanta Journal-Constitution« anvertraut, wolle er unbedingt »durchhalten«, denn er hoffe auf einen Sieg von Kamala Harris. Vergeblich.
In Carters Amtszeit 1977–1981 fielen Kalte-Kriegs-Krisen wie der Olympiaboykott des Westens gegen die Spiele in Moskau 1980 als Reaktion auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, insbesondere aber der im Desaster geendete Befreiungsversuch US-amerikanischer Geiseln 1979 in der Teheraner US-Botschaft nach der »Islamischen Revolution« unter Ajatollah Khomeini. Vor allem letzteres kostete dem einstigen Farmer das Amt und ließ ihn gegen Ronald Reagan 1980 die Präsidentschaftswahlen verlieren.
Engagierter Konfliktlöser
Kaum einer, weder er selbst noch Rosalynn, mit der Carter 77 Jahre verheiratet war, hätte damals geahnt, dass der Präsident nach Dienstschluss zu einem engagierten Konfliktlöser aufsteigen würde. Carters spätes friedenspolitisches Engagement verstärkte den Eindruck, dass er im Weißen Haus weniger der Machtmensch des Regelfalls als ein Außenseiter war, der begünstigt vom Trauma des Watergate-Skandals unter Nixon und dem Vietnam-Krieg eine Weile in der Politik fremdelte. Darin wurde er von Freund wie Feind verkannt – die eigene Seite zieh ihn als zu weichen, idealistischen und der Gewaltlosigkeit zuneigenden Christen. Die Realsozialisten in Moskau und Ostberlin betrachteten ihn als besonders hinterhältigen Imperialisten, der sich ein besonders leuchtendes Menschenrechts-Mäntelchen umgelegt hatte.
Im September 1978 einigten sich Israel und Ägypten in Camp David unter Vermittlung von Carter auf einen Friedensvertrag. Nach seiner Amtszeit gewann er Anerkennung als Vermittler im Nahen Osten, Bosnien oder Ruanda und selbst an so aussichtslosen Schauplätzen wie Nordkorea. 2002 wurde er dafür, vor allem aber für seinen Anteil am Camp-David-Abkommen, mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Sein Eifer hielt bis ins höchste Alter vor und richtete sich – vor allem über das Projekt Habitat for Humanity (Lebensraum für Menschlichkeit) – auf ganz praktische Themen: Hilfe für Bedürftige in den USA und anderswo, konkrete Schritte zur Ausrottung des vor allem Arme in Afrika und Asien heimsuchenden Guineawurms, Aktionen zum Bau von Toiletten auf dem Lande in Äthiopien. Der Moralist und Autor (29 Bücher, neben Sachbüchern auch ein historischer Roman und ein Gedichtband), der Zynismus freie und Jazz liebende, der frohgemute, dauerlächelnde Priester und Hobby-Zimmermann, der die Wiegen all seiner Enkel anfertigte, der »gute Mensch aus Georgia« gilt manchen Landsleuten heute als bester Altpräsident der USA.
Gegner beider Irak-Kriege
Gesellschaftlich artikulierte er sich in seiner »zweiten« Präsidentschaft als Anwalt eines US-amerikanischen Gewissens, das von der Politik häufig missachtet wird: Die Enthüllungen Edward Snowdens etwa bezeichnete Carter als Beleg, dass »Amerika derzeit keine funktionierende Demokratie hat«. Als erster US-Prominenter verlangte er die Schließung des Nine-Eleven-Gefangenenlagers Guantánamo. Israel forderte er zu konstruktiverer Haltung im Nahost-Dauerkonflikt auf und warf der Regierung vor, Palästinenser in Apartheid-Manier zu behandeln. Er war Gegner beider Irak-Kriege, kritisierte Präsidentennachfolger Barack Obama freundschaftlich wegen manch gebrochenen Versprechens und überraschte auf die Frage, worauf er am meisten stolz ist, mit der Antwort, zu seiner Zeit sein Land in keinen Krieg geführt zu haben: »Wir haben nie eine Bombe abgeworfen, keinen Schuss abgegeben – und dennoch unsere internationalen Ziele erreicht. Wir haben anderen Völkern Frieden gebracht, einschließlich Ägypten und Israel. Wir normalisierten die Beziehungen zu China. Mit dem Abkommen über den Panamakanal haben wir Frieden zwischen den USA und den meisten Ländern Lateinamerikas herbeigeführt. Und wir schufen eine Arbeitsbeziehung zur Sowjetunion.«
Im Rückblick besteht kein Zweifel, dass er menschlich, moralisch und politisch die Antithese zu manchem seiner Nachfolger war. Carter war zugleich der letzte lebende einstige Bewohner des Weißen Hauses, der seine Amtszeit nicht zu versilbern suchte – all seine Reden hielt er umsonst, darunter rund 1000 Sonntags-Bibelstunden in der Baptistenkirche in seiner 600-Seelen-Gemeinde Plains. Er erinnert daran, wie falsch die Pauschalbehauptung ist, die USA würden vorrangig von »hässlichen US-Amerikanern« bewohnt und bewegt.
James Earl Carter, der 2015 eine Krebsdiagnose erhalten und 2019 einen schweren Sturz im Haus überwunden hatte, ist am 29. Dezember im Alter von 100 Jahren gestorben. Kein US-Präsident wurde so alt wie er. Es heißt, »Mister Jimmy«, wie ihn seine Nachbarn in Plains nannten, habe für sein Ableben schon vor Längerem zwei Dinge verfügt: Joe Biden möge die Trauerrede halten – und Donald Trump fernbleiben.
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