Die große Abkopplung

Während die Realwirtschaft kriselt, herrscht auf den Finanzmärkten Optimismus

Goldene Zeiten für den deutschen Finanzmarktkapitalismus?
Goldene Zeiten für den deutschen Finanzmarktkapitalismus?

In manchen Meldungen aus der Welt der Wirtschaft stirbt die Hoffnung zuerst: Auf die »verlorene Dekade« folgt das »Schicksalsjahr 2025«, titelt ein Business-Infodienst. Der Rest an Zuversicht wird pünktlich zum Jahresbeginn unter negativen Prognosen und schlechter Laune begraben. Im Kontrast dazu legten die Aktienkurse an der Deutschen Börse rasant zu, und die deutschen Exporte in die Staaten außerhalb der EU stiegen im November gegenüber Oktober kalender- und saisonbereinigt immerhin um 5,5 Prozent, meldet das Statistische Bundesamt. Die Weltwirtschaft wird sowohl im vergangenen wie im laufenden Jahr um 3,2 Prozent wachsen, erwartet der Internationale Währungsfonds. Er nennt die globalen Aussichten nicht überwältigend, aber »stabil«.

Deutschlands Realwirtschaft, die am Exporttropf hängt, scheint inzwischen von dieser Entwicklung abgekoppelt. Für eine (knappe) Mehrheit der 100 deutschen Top-Unternehmen brachte das Jahr 2024 einen Umsatz- und Gewinnrückgang, meldet EY. Der Gesamtgewinn sank um 19 Prozent – im Vorjahr war noch ein leichtes Plus erzielt worden. Großunternehmen wie Bosch, ZF und Volkswagen haben Stellenabbauprogramme gestartet. Die Stimmung bei kleineren Firmen bleibt ebenfalls mau. Das KfW-Ifo-Mittelstandbarometer sank gerade zum siebten Mal in Folge.

»Die deutsche Wirtschaft steckt tief in der Krise«, so das unternehmensnahe Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln. 31 von 49 Wirtschaftsverbände beschreiben laut Umfrage die aktuelle Lage schlechter als noch vor einem Jahr. Die genannten Gründe sind immer gleich: Hohe Kosten für Energie, Arbeit, Material und überbordende Bürokratie sorgen dafür, dass Unternehmen im internationalen Vergleich weniger mithalten können. Und das »politische Chaos im eigenen Land« hemme Investitionen. Wer nicht weiß, wohin die Politik die nächsten Jahre steuert, investiert seltener in neue Maschinen, Technologien oder Fahrzeuge, beklagen auch Gewerkschaften.

In der Finanzwirtschaft ist die Wahrnehmung optimistischer als in der Realwirtschaft, in der Jammern zum politischen Geschäft gehört. So weisen nach wie vor zahlreiche Dax-Konzerne starkes Wachstum auf, etwa der Rüstungskonzern Rheinmetall mit einem Umsatzplus von 40 Prozent und einem Gewinnwachstum von 57 Prozent. Aber auch echte Schwergewichte wie Allianz oder SAP melden Umsatz- und Gewinnzuwächse. Und bei der Beschäftigung zeigt die Tendenz bei der Mehrheit der Aktiengesellschaften bislang nach oben.

Warum auf den Finanzmärkten trotz globaler Unwägbarkeiten und Kriegen überwiegend Optimismus herrscht, illustriert ein Beispiel aus Frankreich: Dieser Tage ging der neue Atomreaktor im nordfranzösischen Flamanville ans Netz. Zu dessen reinen Baukosten von 13,2 Milliarden Euro kommen hier sage und schreibe 5,9 Milliarden Euro an Finanzierungskosten oben drauf, zur übersprudelnden Freude von Banken und Investmentgesellschaften. Und Großprojekte in den Bereichen Energie und Infrastruktur wird es weiterhin geben.

Gewinne sprudeln, und die finanziellen Risiken gelten trotz schwächelnder Realwirtschaft und steigenden Insolvenzzahlen als beherrschbar.

Gewinne sprudeln, und die finanziellen Risiken gelten trotz schwächelnder Realwirtschaft und steigenden Insolvenzzahlen als beherrschbar. Die aktuellen Finanzmarktstabilitätsberichte von Bundesbank und Europäischer Zentralbank (EZB) testieren der Geldwirtschaft mit Blick auf die Risiken ein solides Geschäftsgebaren und eine Kapitalausstattung, die seit der Finanzkrise deutlich zugenommen hat. Die EU-Gesetzgeber haben zudem im Sommer ein weiteres Paket zur Stärkung der Bankenregulierung beschlossen, das zum Jahreswechsel in Kraft trat und den internationalen Basel-III-Standard aus dem Jahr 2010 abschließt. Auch wenn »linke« Vorschläge darüber hinausgehen – die Finanzstabilität wurde erhöht, die Widerstandsfähigkeit der Banken gestärkt und eine Grundlage für eine solide Kapitalausstattung der Realwirtschaft geschaffen.

2025 hängt vieles von der Inflation ab – und den Reaktionen der Zentralbanken. Die US-amerikanische Fed signalisierte auf ihrer Dezembertagung, dass sie in diesem Jahr weniger Zinssenkungsschritte gehen will, als bislang erwartet. Der Grund ist das Wiederaufflackern der Inflation. Im November betrug die Preissteigerungsrate in den USA rund 2,7 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, während es im Euroraum bei 2,2 Prozent waren. Die Zielmarke der beiden wichtigsten Notenbanken im globalen Norden liegen um die 2 Prozent. Sollten die Preise in den kommenden Monaten weiter steigen, dürften die Notenbankchefs Christine Lagarde (EZB) und Jerome Powell (Fed) sogar wieder über Zinserhöhungen nachdenken.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Damit könnten kreditorientierte Institute wie die deutschen Sparkassen und Genossenschaftsbanken wohl gut leben, investmentorientierte Großbanken und Vermögensverwalter wie Blackrock weniger. Ihre zweistelligen Eigenkapitalrenditen – 100 Euro sollen 2025 deutlich über 10 Euro Profit abwerfen – basieren auf Pump: Ist das Geld billig, werden große Summen von Zentralbanken und auf den globalen Finanzmärkten zu einem niedrigen Zinssatz geliehen, um in Aktien, Wertpapieren und Immobilien »investiert« zu werden.

Was überm Strich die Börsenkurse an der Wall Street, in London und Frankfurt beflügelt. So gibt es außerhalb der schwächelnden Automobilindustrie zahlreiche Dax-Konzerne, die starkes Wachstum und euphorische Aktienkurse aufweisen. Von der Energiewende getragen legte der Kurs von Siemens Energy, Spezialist für Windmühlen, Kraftwerke und Stromnetze, im zurückliegenden Jahr um über 300 Prozent zu. Da konnte selbst der Aufsteiger der »Zeitenwende«, Rheinmetall, nicht ganz mithalten. Trotz Wirtschaftskrise in Deutschland hatte der Dax kürzlich die 20 000-Punkte-Rekordmarke vorübergehend geknackt. Zum Jahresende stand er bei 19 909,14 Punkten – ein Plus aus den letzten zwölf Monaten von rund 19 Prozent.

Und so soll es weitergehen: »Ein gutes neues Jahr 2025 liegt vor uns«, lässt sich ein Börsenanalyst zitieren. An den Finanzmärkten wird die Zukunft gehandelt, und zuweilen auch schon die Zeit danach. Der »finanzmarktgetriebene Kapitalismus«, wie es der linke Bremer Ökonom Jörg Huffschmid (1940-2009) einst beschrieb, könnte Banken, Anlegern und Investoren auch 2025 einen guten Aktienjahrgang kredenzen.

Doch wir leben in besonders turbulenten und unsicheren Zeiten. Nach der Wahl von US-Präsident Donald Trump, welcher der Finanzbranche noch mehr Freiheiten versprochen hat, warnte Bundesbank-Vorstand Michael Theurer vor einem internationalen Deregulierungswettbewerb, der zu unkalkulierbaren Risiken führen könnte.

Am 31. Dezember ist das erste Vierteljahrhundert des Jahrtausends zuende gegangen. Die Jahre 2000 bis 2024 waren geprägt durch die Globalisierung und weltweite Wohlstandsgewinne bei einer gleichzeitig wachsenden sozialen Kluft in und zwischen den Staaten. Zugleich hat der Aufstieg Chinas und Indiens die Gewichte der Weltwirtschaft und der Finanzmärkte verschoben. Für Deutschlands Wirtschaft sei es ein goldenes Zeitalter gewesen, befindet dessen Leitmedium, das »Handelsblatt«. Ob es nun zu Ende geht – darauf kann an den Finanzmärkten gewettet werden.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.