- Kultur
- Kritische Theorie
Nicht irgendeine Praxis
Was gilt es zu tun für eine schwache Linke? Jenny Stupka plädiert für »strategisch involvierte Theoriearbeit« - etwa in Vergesellschaftungskämpfen
Angesichts der Klimakrise hat politische Strategiebildung den Luxus einer langen Zukunft verloren. In dem Wissen, dass Zeitdruck viele schwierige Dinge nur noch schwieriger macht, ist dieser Text ein Plädoyer für strategisch informierte, interessierte und involvierte Theoriearbeit. In der gegenwärtigen Kritischen Theorie, insofern sie in der akademischen Philosophie zu Hause ist, werden politisch-strategische Fragen häufig aus der Diskussion ausgeklammert. Diese Abstinenz gilt es zu überwinden. Hierfür möchte ich zunächst beschreiben, was ich in der Praxis der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« (DWE) als Strategiebildung kennengelernt habe. Anschließend möchte ich reflektieren, was strategisch involvierte Theoriearbeit ausmachen kann und inwiefern sich Kritische Theoretiker*innen anders zur strategiebildenden Praxis politischer Organisationen, Gruppen und Bewegungen verhalten sollten, als sie es gegenwärtig meist tun.
Was ist politische Strategiebildung?
Organisiertes politisches Handeln erfordert die Festlegung einer Strategie, welche die eigene Handlungsfähigkeit herzustellen oder zu stärken vermag. Strategiebildung ist eine hochgradig reflexive Praxis, die sich gerade im Umgang mit Offenheit, Leerstellen und Kontingenzen in verschiedenen Hinsichten und auf verschiedenen Ebenen bewähren muss. Politische Akteure können zum Beispiel nie vollständig antizipieren, wie sich die öffentliche Debatte in Reaktion auf eine Kundgebung oder Blockade entwickeln wird oder welche Kapitalfraktion im Krisenfall welche andere stützt und welche andere verrät. Im Vorhinein steht also nicht einmal fest, wer was zu tun hat und das (kollektive) Subjekt der strategischen Reflexion verändert sich gerade auch in dieser Reflexion.
Adorno, selbst kein Praktiker der Strategiebildung, weist in einer »Diskussion über Theorie und Praxis« mit Max Horkheimer aus dem Jahr 1956 dennoch treffend darauf hin, dass die Reflexion immer wieder »die Mittel mit den Zwecken konfrontiert«, was die »Unmittelbarkeit suspendiert«. Durch den Aspekt der Reflexion werde das, »was man tut (…) abgemildert«. Entscheidend ist nicht bloß der unmittelbare Erfolg oder Misserfolg, sondern die Reflexion und das Lerngeschehen, die selbst wichtige politische Praxis sind und die weitere Strategiebildung fundieren.
Folgt man dem pragmatistischen Philosophen John Dewey, begründet sich ein problem- und damit praxisorientiertes Verständnis von Reflexion und Theorie in einem Einsetzen von Reflexion immer dort, wo Probleme auftreten und die normalen Abläufe in die Krise geraten. Diese auf Problemlösung zielende Form der Reflexion, die auch das Lernen aus politischen Erfahrungen begleitet, wird in der politischen Strategiebildung um eine gegenalltägliche Form der Reflexion ergänzt, die Probleme und Krisen aufdeckt, wo für das alltägliche Verständnis keine sind – die also in einem gewissen Sinne Probleme schafft, statt welche zu beheben. In der Strategiebildung geschieht vieles gleichzeitig und eng verwoben: Analyse und Urteil über das Bestehende; die Wahl des begrifflichen Instrumentariums für dessen Beschreibung; die Vorstellung von Alternativen; die Bestimmung einer konkreten Zielsetzung für das eigene Handeln; die Bildung des politischen Subjekts im doppelten Sinne seines Entstehens und des Lernens.
Die erste Grundannahme von Strategiebildung lautet, dass die Wirklichkeit absichtsvoll gestaltet werden kann – in Aspekten auch gegen grundsätzlich erfolgreiche hegemoniale Projekte. Kluger Strategiebildung gelingt es, eine Praxis zu gestalten, die die Voraussetzungen zukünftiger Kämpfe verbessert. Sie kann sich weder Idealismus im Hinblick auf die Möglichkeiten radikaler Politik erlauben, noch sollte sie das Potenzial von gesellschaftlichen Krisensituationen und den eigenen Kräften unterschätzen. Strategisches Denken muss aus den Kämpfen der Vergangenheit lernen, ohne die Unterschiede zur Gegenwart in Bezug auf die zuträglichen und hinderlichen Aspekte der konkreten Bedingungen, die Motivationslagen der politischen Subjekte und die veränderten Formen von Herrschaft zu verkennen. Strategisches politisches Denken muss – statt nur in Tatsachen – immer auch in Potenzialen denken: Es muss die Bedingungen für politische Kämpfe nicht nur als das denken, was ist, sondern auch als das, was daraus werden oder gemacht werden könnte.
Wirkungsgrad und Kooptierung
Strategie verlangt, und darin liegt eine ihrer tiefen Verbindungslinien zur Theorie, nach Analyse der sozialen Wirklichkeit. Ohne treffende Analyse ist eine kluge Strategiebildung nicht möglich; andersherum zeigt sich gerade vor dem Hintergrund strategischer Fragen, was es überhaupt zu analysieren gilt. Wie wir die soziale Wirklichkeit verstehen und beschreiben, bekommt durch die Verarbeitung in Strategie großes Gewicht, obwohl sich die Entscheidung für oder gegen politische Strategien nicht unmittelbar aus den Analysen der gesellschaftlichen Verhältnisse ergibt. Irrtümer über die Verfasstheit der bestehenden Verhältnisse können sich dennoch politisch als Niederlagen und emotional als Entmutigung der Beteiligten auswirken. Der schlechteste denkbare Ausgang scheiternder Strategie ist nicht, dass das eigene Handeln ohne Wirkung bleibt. Wirklich problematisch ist die Gefahr der Kooptierung und einer herrschaftsstärkenden Wirkung entgegen der eigenen Intention.
Strategiebildung muss die ihr doch eigentlich vorausgehende Analyse in manchen Situationen zeitlich überholen: Ist das Möglichkeitsfenster offen, muss die Strategie bereits stehen. Sie greift in sehr spezifischer Weise auf Analyse zu und kann Lücken und Unklarheiten nicht einfach auf zukünftige Auseinandersetzung oder Forschung verschieben, sondern muss Entscheidungen treffen, wie mit Ungewissheiten in der Deutung der politischen, ökonomischen und sozialen Lage umzugehen ist. Zudem muss sie mehrere mögliche Verläufe und Entwicklungen in Betracht ziehen. Idealerweise hat eine Strategie das Potenzial, in verschiedenen Szenarien konstruktiv zu wirken. Strategiebildung hat daher eine Affinität zum Denken in Szenarien, das um eine Einschätzung der Wahrscheinlichkeit für ihr jeweiliges Eintreten erweitert wird.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Ein solcher nicht zaghafter Umgang mit analytischen Leerstellen motiviert sich auch daraus, dass nur politisches Handeln dazu führen kann, politische Erfahrungen zu machen und diese unerlässlich sind, um die häufig am schwierigsten zu besetzende Leerstelle der Strategiebildung zu füllen. Es fällt meist leicht, zu entscheiden, welche Wähler*innenmilieus für eine politische Problemlage zu interessieren sind und auch, wie diese Problemlage zielgruppengerecht zum moralischen Skandal zugespitzt werden kann. Schwieriger – und nur auf der Grundlage konkreter Praxiserfahrung – ist zu entscheiden, wie Beteiligungsangebote gestaltet werden können, die das angestrebte Ziel näherbringen und attraktiv sind, um viele, auch sehr diverse Menschen einzubinden. Gelingt der beschriebene Umgang mit den analytischen Leerstellen, mit den Kontingenzen der gesellschaftlichen Entwicklung und den eigenen Praxiserfahrungen im Sinne eines kollektiven Lernens, kann Strategiebildung einen produktiven »Experimentalismus« ermöglichen.
Strategisch involvierte Theorie heute
Ein Aufruf an Kritische Theoretiker*innen, sich an der Analyse von Bedingungen des Scheiterns und Gelingens bestimmter Strategien zu beteiligen, hätte Max Horkheimer schwer irritiert, insofern man den Ausführungen in seinem berühmten programmatischen Text »Traditionelle und kritische Theorie« von 1937 folgt. Der implizite Positivismus, der darin besteht, bestimmte Bedingungen als kausal für ein Ereignis oder eben auch den Erfolg oder Misserfolg einer Strategie zu identifizieren, würde aus potenziell kritischen vielmehr traditionelle Theoretiker*innen machen, weil sie fragmentierend denken müssten, anstatt den gesellschaftlichen Gesamtprozess zu erfassen. Zudem wäre für Horkheimer ein solch historistischer Standpunkt der Theorie problematisch, weil die Theoretiker*innen die »Gefühle und Vorstellungen einer Klasse« nur reproduzieren würden. Stattdessen soll die Arbeit der Theoretiker*innen zum »verändernden Faktor« werden, indem sie beim Theoretisieren eine produktive Spannung zu ebenjenen Gefühlen und Vorstellungen aufbauen.
Ich möchte diesen wichtigen Hinweis auf eine produktive Spannung aufnehmen, aber mich mit meinem Vorschlag zugleich von Horkheimers Position absetzen. Die verschiedenen Weisen, in denen Theoretiker*innen sich auf strategiebildende Praxis beziehen können, sollten als Spektrum verstanden werden, auf dem den verschiedenen Typen allesamt ihre je eigene Berechtigung zukommt: von der bewusst unterstützenden theoretischen Mitarbeit über Horizonterweiterungen unterschiedlicher Reichweite und damit zunehmender Spannung bis zu Konfrontationen und produktivem Konflikt mit der Strategiebildung politischer Akteure.
Strategisches Wissen basiert auf verschiedenen grundlegenderen Überzeugungen einerseits, beispielsweise über die Logiken kapitalistischer Macht und rassistischer, sexistischer und geschlechterbinärer Herrschaft, und eher epochenspezifischen Annahmen andererseits, etwa über Spezifika des gegenwärtigen Akkumulationsregimes und Stärke oder Schwäche linker Organisationen, Infrastrukturen und Erzählungen. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung finden also Eingang in politische Strategien, insofern sie die analytische Basis für die genannten Grundannahmen bilden. Ob sie aber ihren Weg dorthin finden, bleibt relativ zufällig und der Vermittlung derjenigen Märkte überlassen, auf denen Ideen gehandelt werden, etwa durch den Medien- und Buchmarkt, die sozialen Medien oder die wissenschaftliche Öffentlichkeit. Das gilt umso mehr, als gegenwärtig nur wenige Theoretiker*innen in Bildungs- und Vermittlungsprojekte außerhalb ihrer jeweiligen universitären Lehre involviert sind.
Im Kontrast zu diesem vermittelten Verhältnis von Theoretiker*innen und strategiebildenden Akteuren – und provokant formuliert gegenüber Horkheimer – könnte unmittelbar unterstützende Arbeit darin bestehen, sich an der Beantwortung von gerade jenen Fragen zu beteiligen, die sich die strategiebildenden Akteur*innen selbst stellen. Wenn Kritische Theoretiker*innen mangelndes Bewusstsein für und fehlende Kenntnis von Strategiebildung haben, kann solche unterstützende theoretische Arbeit Bedeutung als eine Art Praktikum gewinnen. Strategisch interessierte Theoriearbeit könnte bewusst damit umgehen, dass Strategiebildung mit analytischen Leerstellen kämpft und ihre Forschungsfragen danach ausrichten. Nicht alle Theoriearbeit soll in diesem direkten Sinne unterstützend motiviert sein, ein Teilbereich hingegen schon – denn allein die Leerstellen und Fehler in den Grundannahmen zu identifizieren, ist oft doch eher das Ergebnis einer theoretischen als einer strategischen Reflexion.
Mit Horizonterweiterungen würde eine zunehmend spannungsvolle Beziehung zu den strategiebildenden Akteuren aufgebaut. Das Lernen aus Strategien anderer Akteure, an anderen Orten und zu anderen Zeiten verlangt nach Erläuterungen, welche Bedingungen zu welchem Ausgang beigetragen haben, warum wann und wo etwas funktioniert hat und etwas anderes nicht. Mitunter besteht die hilfreiche Perspektiverweiterung auch gerade in dem Hinweis, dass bestimmte Bedingungen fälschlich isoliert und irreführenderweise als Garanten oder Hindernisse für Handlungsfähigkeit gepriesen oder gefürchtet werden. Historische Traditionslinien freizulegen, in denen gegenwärtige Kämpfe häufig unbemerkt stehen, stellt eine weitere wichtige Richtung der Horizonterweiterung dar. Ein Bewusstsein für die eigene Rolle, auch Klassenbewusstsein im engen Sinne, kann oft erst durch das Verständnis solcher Traditionslinien ermöglicht werden – vor allem dann, wenn in der eigenen Gegenwart klassenkämpferische Organisationen und ein entsprechendes Alltagsvokabular kaum existieren.
Die meisten Gruppen, Organisationen und Bewegungen folgen zudem oft einer nationalen Logik. Inter- und transnationale Effekte ihres Handelns und Anknüpfungspunkte für gemeinsames Handeln werden nicht erkannt. Solche Perspektiverweiterungen würden ernstere empirische Verpflichtungen der Kritischen Theorie verlangen. Verweise insbesondere auf soziale Bewegungen, historische Kämpfe und Ansätze zur Problemlösung haben gegenwärtig oft eher den Charakter von Illustrationen der selbst verfolgten Gedanken und Argumente. Ein theoretisches Durcharbeiten empirischen Materials wäre etwas anderes und muss erst wieder neu gelernt werden.
Wird schließlich Theorie in relativer Unabhängigkeit zu zeitgenössischen Kämpfen vorangetrieben, könnte der Beitrag zur Strategiebildung gerade darin bestehen, die eigenen Erkenntnisse auf ihre strategischen Implikationen hin zuzuspitzen. Dies könnte in stärkere Konflikte mit den in ihrer praktischen Arbeit strategiebildenden Akteuren selbst führen. Wir sollten Max Horkheimer in der Einschätzung folgen, dass gerade solche Konflikte hochgradig produktiv sein können.
Es gibt viel zu tun
Die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen begann 2018 mit einer Kampagne für die Enteignung und Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne in Berlin, infolge derer gut 59 Prozent der Wähler*innen 2021 für die Vergesellschaftung stimmten. Die Umsetzung wird seither von der Politik verschleppt. Die Bewegung für Vergesellschaftung sowie ihr Versuch, konkrete demokratische Formen für die zukünftige Verwaltung zu entwickeln, und das Problem, tatsächliche Durchsetzungsmacht aufzubauen, stellen auch sympathisierende Kritische Theoretiker*innen konkrete Aufgaben. Historische Horizonterweiterungen sind in Bezug auf Bemühungen um Vergesellschaftung besonders naheliegend und auch gewinnbringend, weil die Vergesellschaftung als zentrales Instrument eines wirtschaftlichen Umbaus zum Sozialismus – oftmals als »Sozialisierung« bezeichnet – bereits zu früheren Zeitpunkten Gegenstand ausgefeilter Diskussionen war. Insbesondere in den Jahren 1918 bis 1923 erschienen Hunderte Flugblätter, Pamphlete und Monografien, die sich mit der begrifflichen Bestimmung, einer sinnvollen Priorisierung der Vergesellschaftung verschiedener Wirtschaftszweige und der innerbetrieblichen Organisation beschäftigten.
Der Rückblick auf die Debatten, wie sie vor rund 100 Jahren in der Weimarer Republik geführt wurden, zeigt auch, dass die Vereinnahmung durch reformistische Kräfte droht. Die SPD nutzte damals den Slogan »Die Sozialisierung marschiert!«, um die radikalen Forderungen der Arbeiter*innen durch die Belehrung zu befrieden, dass die objektiv notwendigen Voraussetzungen dafür noch nicht erfüllt seien, man sich aber auf die bald mögliche Vergesellschaftung durch den Staat verlassen könne. Auch in der gegenwärtigen Situation sind Versuche der Abschwächung der Vergesellschaftungsidee zu beobachten: Die Grünen versuchten als Teil des Berliner Senats, eine Vergesellschaftung als radikales letztes Mittel zu interpretieren, dessen Anwendung von qualitativen Kriterien und insbesondere moralischem Versagen in der Vermietungspraxis abhängig gemacht werden sollte.
»Vergesellschaftung« begrifflich positiv zu füllen, ist ein Erfordernis der Bewegung, das durch kritische Begriffsarbeit gewinnen kann.
Aus einem Instrument für umfassende Demokratisierung und einem selbstzweckhaften Umbau der Wirtschaft wird so eine Miniaturreform. »Vergesellschaftung« begrifflich positiv zu füllen, ist in dieser Situation ein Erfordernis für die Öffentlichkeitsarbeit der Bewegung, das durch die Unterstützung kritischer Begriffsarbeit gewinnen kann. Es ist eine begriffsstrategische Frage, in welchen politischen Konstellationen es auch in der Theorie um positive Begriffsbestimmungen gehen muss. Für die Erarbeitung der konkreten Rätestrukturen ist Lernen aus historischen Erfahrungen und zeitgenössischen Versuchen in anderen Kontexten unerlässlich und auch bereits in die Konzeption durch DWE eingeflossen.
DWE hat mit einem Fokus auf gemeinsames Lernen und die Wissensweitergabe in den eigenen Strukturen sowie in Versuchen der unterstützten Selbstorganisation von Mieter*innen bereits eine wichtige Praxis etabliert. Die Initiative setzte dabei auf länger zurückliegende Erfahrungen mit dem aufsuchenden Aufbau von Strukturen etwa in der Otto-Suhr-Siedlung. Zwar ist es in der Zusammensetzung der Initiative nicht gelungen, eine Diversität abzubilden, die repräsentativ für die Berliner Bevölkerung wäre, aber immerhin wurden Praxisformen wie etwa Haustürgespräche erprobt und kollektiv experimentierend weiterentwickelt, die eine breite Ansprache der Berliner Stadtgesellschaft ermöglichen. Soll die politische Durchsetzung gelingen und sollen die zu etablierenden Rätestrukturen keine reinen Aktivist*innen-Treffpunkte bleiben, werden neben materiellen Voraussetzungen wie der Vergütung von Posten in den Räten gemeinsames Lernen und sensible Bildung eine noch größere Rolle spielen. Eine der Vergesellschaftung entsprechende Kultur muss erst wachsen. Es ist an der Zeit, dass die gesellschaftliche Linke ebenso wie die Kritische Theorie das Thema emanzipatorischer Bildung und die ihr angemessenen Vermittlungsformen und -prozesse wiederentdecken. Vielleicht können sie es anlässlich der konkreten Bedeutung im Vergesellschaftungsprozess gemeinsam tun.
Analyse und Durchsetzung
Zwei Themenfelder auch für theoretische Arbeit schließen sich an das Problem der politischen Durchsetzung an. Einerseits sind Beschreibungen der hegemonialen Konstellation notwendig, um mögliche Interventionspunkte und Bündnisoptionen zu erkennen. Gerade in der unübersichtlichen und emotional herausfordernden Konstellation der sich überschlagenden Krisen sind Einschätzungen der politischen Gesamtentwicklung als Grundlage strategischer Entscheidungen von immenser Bedeutung.
Andererseits gilt es, sich der Frage der Durchsetzungsmacht zu widmen, wenn in einer Situation wie der jetzigen ein eindeutiges Votum der Wähler*innen politisch sabotiert wird. Der Historiker und DWE-Aktivist Ralf Hoffrogge warf einen vergleichenden Rückblick auf die Forderung nach Vergesellschaftung der Stahlindustrie in den 1980ern: »Blickt man auf heutige Kämpfe um Vergesellschaftung (…), so ergibt sich ein struktureller Vorteil: Bereiche wie Wohnen, Pflege oder Gesundheit können nicht wegglobalisiert werden. Es geht (…) um die Produktion des Lebens selbst. Und die findet lokal statt«. Dieser strukturelle Vorteil lässt sich nur zu einem realen strategischen Vorteil ausbauen, wenn eine breite Mobilisierung und vor allem auch längerfristige Organisierung der betroffenen Mieter*innen gelingt.
Eine Fehlbeschreibung sozialer Bewegungen als eben vorrangig beweglich und flüchtig und ein mangelndes Interesse an politischen Organisationen – an den Parteien, den Gewerkschaften oder eben Mieter*innenvertretungen – hindert Kritische Theoretiker*innen in der akademischen Philosophie gegenwärtig aber daran, sich substanziell an der Bearbeitung des Durchsetzungsproblems beteiligen zu können. Zusätzlich ergeben sich auf dem beschriebenen Spektrum weitere Ansätze für Theoriearbeit, deren Ergebnisse potenziell in größerer Spannung zu den Debatten innerhalb der gegenwärtigen Bewegungen für Vergesellschaftung stehen. Eine kritische Perspektive könnte analysieren, was in den gegenwärtigen Überlegungen und Modellierungen von Vergesellschaftung noch als gegeben angenommen wird, obwohl es doch veränderbar wäre. Die kritisch-theoretische Perspektive könnte mit einer solchen Denaturalisierung eine ihrer erprobten Operationen gegen die eigenen politischen Mitstreiter*innen wenden und sich damit vielleicht gleichermaßen temporär unbeliebt, aber eben auch nützlich machen.
Der Text ist ein gekürzter Abdruck aus dem von Mirko Broll und Eva Fleischmann herausgegebenen Sammelband »Handeln in einer schlechten Welt« (Bertz + Fischer 2024, 234 S., br., 18 €). Der Band erschien in der Publikationsreihe des Instituts für Sozialforschung »IfS aus der Reihe«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.