Gigantischer Minimalismus

Auf den Spuren von James Dean, Elizabeth Taylor und Rick Hudson

Marfa – Kunst in der Wüste?
Marfa – Kunst in der Wüste?

Howdy aus Texas, liebe Leser*innen,
haben Sie in den letzten Wochen auch zu viel von Ihrer Familie gesehen? Doch statt unsere in die Wüste zu schicken, flohen mein Mann und ich selbst dorthin: nach Marfa, einer texanischen Kleinstadt, die als Hippie-Kunstmekka gilt und in der Chihuahua-Wüste liegt, die für die gleichnamigen Minihunde bekannt ist.

Apropos Mini: In den 70ern kam der New Yorker Minimalismus-Künstler Donald Judd nach Marfa und schuf dort eine Art Künstlerkommune. Das Städtchen hatte in den 1920/30ern Jahren erste Bekanntheit erlangt, als es in Antizipation des Ölbooms ein paar schöne Gebäude baute. Ähnlich wie in dem Film »Giganten«: Ein armer heißer Schlucker (James Dean) kommt an ein winziges Stückchen Land, findet dort Öl, wird Millionär. Der Ölboom blieb zwar aus, dafür wurde aber dieser legendäre Hollywoodfilm, in dem auch Elizabeth Taylor und Rick Hudson mitspielten, unter anderem in Marfa gedreht. Kunst in der Wüste, ein Film von 1956 und nicht mal 2000 Einwohner? Eine gute Ausrede, die Familie zwischen den Feiertagen für eine paar Tage im Stich zu lassen.

Talke talks

News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.

Doch der Roadtrip ging holprig los. Über acht Stunden tuckerten wir von Dallas nach Marfa, umgeben von Ödnis, Flachland, Fabriken, Raffinerien, Metallschrott, Jesus- und Maga-Reklametafeln mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 75 Meilen (120 km/h), was hier auch noch als sehr schnell gilt. Als wir endlich im historischen Hotel von Marfa ankamen, das den »Giganten« gewidmet ist, weil die Crew und Schauspieler während des Drehs darin untergekommen waren, und das wir für drei Nächte gebucht hatten, folgte die nächste Enttäuschung: Genauso historisch wie das Gebäude war auch die defekte Heizung.

Aber wir waren doch der Kunst wegen gekommen! Marfa wurde angeblich entweder nach der Marfa in Dostojewskis »Die Brüder Karamasow« oder nach der in Jules Vernes »Kurier des Zaren« benannt. Mehr Russisches gab es dann in Donald Judds riesigem Museum, der Chinati Foundation zu sehen, für die wir eine sechsstündige (!) Führung gebucht hatten: Alte Kasernen wurden hier zu Schauräumen umfunktioniert, in denen es vor allem Minimalistisches zu sehen gibt: riesige Aluminiumwürfel und Zementringe, kreisförmig angeordnete Steine, bunte Lichter in langen leeren Räumen und eine Reihe von Zetteln, versehen mit zarten Bleistiftstrichen. Aber auch Ilja Kabakow, der russische Konzeptkünstler, ist hier mit einem Gebäude vertreten, in dem er eine verlassene sowjetische Schule inszeniert: marode und deprimierend, den Sozialismus verdammend.

Außer Judds Zentrum gibt es noch ein Kunstwerk, das Marfa berühmt gemacht hat und das wiederum den Kapitalismus anprangert: »Prada Marfa«, ein faker Laden, in dem echte Accessoires der Modemarke Prada ausgestellt sind; eine Land-Art-Installation, die Konsum kritisieren soll, aber eigentlich auch die Modeobsession feiert. An den Hollywoodfilm wurde ebenso gedacht: Gigantische James-Dean- und Liz-Taylor-Figuren aus Sperrholz stehen mitten im Nirgendwo am Straßenrand. Und da niemand in der Wüste ist, kann man schamlos Selfies mit den Kunstwerken schießen.

An unserem letzten Tag brachen wir in den Nationalpark Big Bend auf, denn ich hatte meinem Mann nach all der Minimal, Concept und Land Art etwas ungekünstelte Natur versprochen. Wir wanderten erneut ganz allein durch die karge, aber irgendwie schöne Wüstenlandschaft, bis mich die Paranoia einholte: Was, wenn mein Mann jetzt plötzlich stürbe, wer käme mir zu Hilfe?

Auf dem Rückweg wurden wir von der Grenzkontrolle angehalten; es stellte sich heraus, mein Mann hatte seine Greencard vergessen. Ich überlegte nochmals, ob mein Mann sterben sollte (diesmal nicht eines natürlichen Todes), doch wir erfuhren, so nah an der Grenze Mexikos, was es mit sogenannten White Privilege auf sich hat, und wurden durchgewunken.

Auf der Heimfahrt hatten wir dann weniger Glück: Uns platzte auf dem Highway der Autoreifen. Ob Jesus von der Reklametafel, Dostojewskis Schuld-und-Sühne-Konzept oder doch Mutter Natur: Wir sollten mit unserer Solobildungsreise nicht ungestraft davonkommen.

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