Heilig, unheimlich und gefährlich

Einige Anmerkungen zu Tabu, Fetisch und kultureller Aneignung

  • Gerhard Schweppenhäuser
  • Lesedauer: 12 Min.
Sex und Körperlichkeit sind keine Tabus mehr. Oder doch?
Sex und Körperlichkeit sind keine Tabus mehr. Oder doch?

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg studierte Sigmund Freud die neueste ethnologische Forschungsliteratur, speziell Werke von James Frazer. Könnte man das exotisch markierte Ordnungssystem »Tabu« als Dekodierungsschlüssel für Phänomene der westlichen Kultur verwenden? Tabus, fasste Freud zusammen, sind Berührungsverbote: gesellschaftliche Vermeidungsregeln, die codieren, was Scheu und Scham auslöst. Der Tabu-Bereich habe eine ambivalente Ausstrahlung: »einerseits heilig, geweiht, anderseits: unheimlich, gefährlich, verboten, unrein«. Ein Tabu werde nicht begründet, es verbiete sich anscheinend von allein. Freud meinte, es würde im Seelenleben »zu einer in sich selbst begründeten Macht, die sich vom Dämonismus losgelöst hat«. Irrationale Vermeidungen und Bindungen behielten ihre Kraft; zu dem, was das Tabu verbietet, bestehe »eine starke Neigung im Unbewußten«.

In der Kulturwissenschaft werden Tabus heute nicht mehr, wie zu Frazers Zeiten, als exotisches Kuriosum gelesen, sondern als Elemente der Verstetigung sozialer Handlungsnormen. »Rationale« Tabuisierung schützt etwa vor den Abgründen des Begehrens, die sich als sexualisierte Gewalt gegen Kinder, als Folter oder Anthropophagie auftun. Die »funktionale Wirkung« des Tabus kann aber auch als »magische Abwehrpraxis« aufgefasst werden: als »atavistische soziale Praxis der Verschleierung« (Gertrud Koch). Dann gilt es als Errungenschaft der Aufklärung, den Bann »einer blind geübten Abwehrpraxis« zu brechen.

Alexander und Margarete Mitscherlich forschten in den 60er Jahren über Tabus und Ressentiments. Als Beispiel nannten sie die Weigerung großer Teile der BRD-Bevölkerung, zu akzeptieren, dass die Alliierten 1945 das Territorium des deutschen Hoheitsgebiets in den Grenzen von 1937 um ein Viertel verkleinert hatten. Wenig später brach Willy Brandt mit seiner Ostpolitik dieses Tabu und musste sich lange dagegen wehren, aus der Gemeinschaft der guten Deutschen ausgegrenzt, zum Unberührbaren erklärt zu werden.

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In den letzten Jahren galten Kinderarbeit oder Sexualität im Alter als Tabus, die gebrochen wurden oder werden sollten. Ob Tabus befolgt oder gebrochen werden, ob sie Einschluss oder Ausschluss bedeuten – beides gilt als gesellschaftliche Praxis, die Stabilität und Zusammenhalt schafft.

Ist auch die heute umstrittene ›kulturelle Aneignung‹ ein Tabu? Oder ein Tabubruch? Und ist die Rede vom Tabu nicht überhaupt eine Spätfolge der Aneignung eines Konzepts aus einem Kulturkreis, der im 18. Jahrhundert, auf den Spuren von James Cook, in den Fokus kolonialer Begehrlichkeiten geriet? Die europäische Südsee-Faszination war ein bizarres Konglomerat aus imperialistisch-missionarischer Unterwerfung und zivilisationsfeindlichem Eskapismus. In der Ethnologie hat man dies als Mischung aus »Abwehr und Verlangen« (Karl-Heinz Kohl) beschrieben.

An- oder Enteignung

Im postkolonialen Diskurs gelten Kunstraub, selbstermächtigtes Sprechen für andere und »die Übernahme von kulturellen Artefakten und Symbolen in modischer oder konsumistischer Weise« als illegitime Aneignungen: Eine »Dominanzkultur« mache sich »die Symbole um Emanzipation kämpfender diskriminierter Gruppen zu eigen […], um diese zu eigenen Zwecken zu recodieren oder in Konsumartikel zu verwandeln« (Lars Distelhorst). Das müsse aufhören – und wenn es sich schon nicht von selbst verbietet, soll es Anlass zur Scham sein.

Die Konzepte »Kultur« und »Aneignung« können aber kaum getrennt werden. Es gibt keine kulturelle Tradition ohne Bildungsprozesse, das heißt: ohne individuelle Aneignung(en) allgemeiner kultureller Errungenschaften. Vorstufe ist das identifikatorische Aneignen, die Nachahmung. In der reflektierten Aneignung, der Bildung, entfremdet sich das Subjekt von sich, indem es sich ein Anderes zu eigen macht. So hat sich denn auch das Tabu-Motiv als Selbstbeschreibungsmodell für Ambivalenzen in europäischen Kulturen besser bewährt denn als Konstrukt, mit dem europäische Forscher aufgrund von Berichten christlicher Missionare versuchten, Südseekulturen psychosozial zu kartografieren.

Im Übrigen gibt es keine von Aneignungen »reinen« Kulturen, nur Mischgebilde aus kollektiven Aneignungen verschiedener Einflüsse. Diese Einsicht ist in der »Allgemeinen Erklärung zur kulturellen Vielfalt der 31. Unesco-Generalkonferenz« festgeschrieben: »Kreativität ergibt sich aus den Wurzeln kultureller Tradition, aber sie kann sich nur im Kontakt mit anderen Kulturen entfalten.« Das mag denen nicht in den Kram passen, die den Kampfbegriff »Rasse« durch »Kultur« ersetzen und von deren Reinhaltung fantasieren. Oder denen, die sich Phantome wie nationale »Leitkulturen« ausdenken, denen sich Zugewanderte zu unterwerfen hätten.

Solche reaktionären Positionen teilen die Idealisierung des Gemeinschaftszwangs mit den vermeintlich progressiven Konzepten kultureller Identitätspolitik. Sie behaupten: Kulturgemeinschaften sind Identitäten, die den Individuen vorgeordnet sind. Konzepte der sogenannten »Identitären« zeigen als hässliche Fratze, worauf auch linke Identitätspolitik hinauslaufen kann. Wer Aneignung ablehnt und behauptet, es würde »authentische«, »kollektiv-fixierte Elemente einer Sub- oder Minderheitenkultur« geben, »die nur dieser vorbehalten sein sollen«, tappt in die Kulturalisierungs-Falle, denn dann wird die individuelle »Freiheit« geleugnet oder unterdrückt, »die sich generell gegen jede Kulturalisierung richten muss« (Samuel Salzborn).

Kultur und Aneignung sind unzertrennlich, und doch hat es einen rationalen Kern, wenn kulturelle Aneignung an den Pranger gestellt wird. Ich würde aber vorschlagen, von kultureller Enteignung statt von kultureller Aneignung zu sprechen. Enteignungen kultureller Formen kommen freilich nicht nur von außen. Die symbolischen Formen der Kultur beruhen auf Herrschaft und Gewalt. In diesem Sinne notierte Walter Benjamin, dass es kein Zeugnis der Kultur gibt, das nicht zugleich auch eines der Inhumanität wäre.

Hegemonie und Transzendenz

Symbolische Formen gehen aus sozio-ökonomischen Strukturen hervor, entwickeln aber eine »relative Eigengesetzlichkeit« (Max Horkheimer). Kulturelle Sinngebung bildet den sozialen ›Kitt‹ von Herrschaftsformationen. Über die symbolischen Formen ihrer Kultur ordnen sich Menschen seelisch in soziale Ordnungen ein, die sich mit der Arbeitsorganisation wandeln. Aufgrund ihrer relativen Eigengesetzlichkeit kann kulturelle Praxis die bestehenden Arbeits- und Produktionsverhältnisse symbolisch überschreiten – mit Vorstellungen und Bildern jenseits von Erwerbsarbeit, Konkurrenz und Überlebenskampf. Dies macht es möglich, dass sich subversive Kräfte herausbilden, die zum Widerstand gegen die kulturelle Maschine der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen ermächtigen.

Im 20. Jahrhundert, hat Theodor W. Adorno beobachtet, wird der Raum kultureller Transzendenz jedoch in die kulturindustrielle Immanenz hineingezogen. Subversive Verwandlungskräfte schwinden – nicht nur, weil staatliche Kultur-Budgets gekürzt werden, sondern auch, weil die Kultur- und Kreativwirtschaft expandiert. »Die kritische […] Transzendenz der Kultur wird beseitigt«, schrieb Herbert Marcuse vor 60 Jahren. Kulturindustrielle Aneignung, warenförmige Kodifizierung und symbolische Kolonisierung des kulturellen Raums strafen die Deklaration der Unesco- Generalkonferenz Lügen: »Kulturelle Güter und Dienstleistungen« seien »Träger von Identitäten, Wertvorstellungen und Sinn« und dürften daher »nicht als einfache Waren oder Konsumgüter betrachtet werden«, fordert die Unesco – im Widerspruch zu den Imperativen der Cultural Industries.

Der legale Diebstahl

So weit, so bekannt. Doch es gibt etwas, das stärkeren Tabu-Charakter hat als die kulturelle An- und Enteignung. Ich meine die Geschäftsgrundlage der industriekapitalistischen Produktionsweise. Die wird, im Gegensatz zu ihren aktuellen Folgen, in der Regel eher nicht thematisiert. »Kapitalismuskritik« ist heute in aller Munde. Aber meist adressiert sie nur Akzidentien: die Schere zwischen Superreichen und Habenichtsen; Gier bei der Gewinnmaximierung; Gleichgültigkeit angesichts weltweiter Naturzerstörung. Gier und Gleichgültigkeit werden moralisch kritisiert; Einkommensungleichheit wird akzeptiert, solange sie kein unanständiges Ausmaß annimmt. Doch die Substanz der industriekapitalistischen Produktionsweise bleibt unberührt. Sie beruht auf der besonderen Eigenschaft der Ware Arbeitskraft, mehr Wert produzieren zu können, als sie zu ihrer Wiederherstellung verbraucht. Für warenförmige Dienstleistungen gilt dasselbe. Erwerbsarbeitende erhalten als Lohn oder Gehalt nicht das Wertäquivalent der Arbeitszeit, die sie verausgabt haben. Sie bekommen lediglich so viel, wie nötig ist, um ihre Arbeitskraft wiederherzustellen. Dieser Tauschvorgang wird durch den Arbeitsvertrag geregelt – formal gerecht, real aber ungerecht. Karl Marx hat das einen »Diebstahl an fremder Arbeitszeit« genannt – ein Diebstahl, der im Rahmen der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise vollkommen legal ist.

Fetischismus und Denkhemmung

Dabei erscheint ein historisch gewachsenes, gesellschaftliches Verhältnis so stabil wie ein Naturgesetz. Das berühmte Kapitel über den »Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis« im »Kapital« von Marx enthält den Nachweis, dass arbeitenden Menschen, die durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte in Kontakt treten, »die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten […] nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst« erscheinen, »sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen«. In einer durch Waren vermittelten gesellschaftlichen Beziehung werden die Waren selbst zum Träger der gesellschaftlichen Beziehung. Dass diese Beziehung den Gesetzen von Herrschaft und antagonistischer Konkurrenz unterliegt, steht nicht zur Debatte, solange die »Wertform« der Waren »nicht als ein Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse« erfahren wird, »sondern als Eigenschaft der Dinge.« (Marx)

Wenn die industriekapitalistische Produktionsweise als eigen- und übermächtige Gegebenheit erscheint, wenn sie zum Fetisch gemacht wird, entsteht eine Blockade der Vernunft durch die Zwänge der Warenproduktion. Dass Ohnmacht, Hemmung der individuellen und kollektiven Möglichkeiten – sowie die Unfruchtbarkeit des permanenten Wirtschaftswachstums – aus dem gesellschaftlichen Warentausch resultieren, ist heute eigentlich kein Geheimnis. Man kann wissen, dass das Kapitalverhältnis keine Naturtatsache ist. Gleichwohl gilt es als unantastbar. »Noli me tangere!«, scheint es zu sagen. Habt ihr mir nicht alles zu verdanken? Dann haltet mich auch bitte weiterhin heilig. So furchtbar ich sein mag, so verlockend bleibe ich. Die ganze Welt will sich ja dem Wertgesetz unterwerfen! Und das Wirtschaftswachstum, mein Dämon, verfügt über magische, »grüne« Allmacht: Er verursacht die Klimakatastrophe – und er soll sie höchstpersönlich abwenden.

Alexander und Margarete Mitscherlich konstatierten in den 60er Jahren, dass es sich im antikommunistischen Westen nicht schickte, über »den Privatbesitz an den Produktionsmitteln« zu reden. Dies war »ein zentrales Tabu«. Die Rückschrittlichen würden sich weigern, die Realität des Sowjetsystems anzuerkennen; sie lebten »in der Erwartung«, dass auf die Verletzung des Tabus »die Strafe automatisch folgen müsse«. Die Pragmatischeren setzten sich mit dem Tabu auseinander, nicht zuletzt durch Handelsbeziehungen. 1990 kollabierte der Machtbereich der Sowjetunion und erhielt seine Strafe mit Verspätung – im Rückblick könnte es scheinen, als hätten die Rückschrittlichen recht behalten.

Abwehrreflexe. Wer die kapitalistische Produktionsweise nicht sieht, sollte schweigen.
Abwehrreflexe. Wer die kapitalistische Produktionsweise nicht sieht, sollte schweigen.

So verstößt es noch heute gegen den guten Ton und gilt gleichsam als unreinlich, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und den Januskopf des Äquivalententauschs im Arbeitsvertrag analytisch-kritisch anzutasten. Dass man so etwas in Medien nicht tut, die als mehrheitsfähig gelten, weil sie das demokratische System stabilisieren, muss nicht begründet werden, es scheint sich von selbst zu verstehen und zu verbieten. Mit den Mitscherlichs könnte hier eine »Denkhemmung« diagnostiziert werden: Kritikverbot und Konformitätserwartung, die von der »Schulmeinung« und der »Meinung von Autoritäten« ausgehen, werden internalisiert. Wer das Privateigentum an den Produktionsmitteln zum Problem macht, wird ins Zwielicht der Hinterzimmer gerückt, in denen Verschwörungstheorien ausgeheckt werden. Wenn Kohei Saito und Nancy Fraser Argumente für radikale Kritik an den Nachhaltigkeitszielen der UN und am »globale[n] Kapitalismus« liefern, der »immer noch auf enteigneter und ausgebeutete[r] Arbeit [beruht]« (Fraser), bekommt man im Feuilleton der »FAZ« oder der »Neuen Zürcher Zeitung« Schnappatmung.

Autoritarismus und Ressentiment

Privateigentum ist in der europäischen Neuzeit als Menschenrecht kodifiziert. Es gilt als Grundlage individueller Selbsterhaltung und ist konstitutiv für die bürgerliche Gesellschaft. Der Schutz des Privateigentums an den Produktionsmitteln, Grundlage des Arbeitsvertrags zwischen formell freien und gleichen Vertragspartnern, ist die Aufgabe der staatlichen Repressionsorgane. Der nationale Wettbewerbsstaat (Joachim Hirsch) hat die Pflicht, die nationale Selbsterhaltung in der globalen Konkurrenzwirtschaft zu sichern – wenn es sein muss, mit Gewalt.

Grundsätzlich erfordert und gestattet die Hegemonie der Privateigentümer*innen der Produktionsmittel zwei Herrschaftsformen: den demokratischen Liberalismus und den Autoritarismus. Die krisenhafte Entwicklung der Produktionsverhältnisse führt die liberale Herrschaft heute wieder an ihre Grenze; jenseits lockt die autoritäre. Wenn sie verheißt, die Produktionsverhältnisse zu sichern, indem sie Märkte im Dienst der nationalen Eigeninteressen reguliert, dann sind Brandmauern hinderlich.

Das Tabu unterstützt den Fetischcharakter des Staates. In der politischen Philosophie der Neuzeit – das Paradigma ist die Staatstheorie von Thomas Hobbes – wurde das Selbsterhaltungsprinzip vom Einzelnen auf den modernen Nationalstaat übertragen, der ein selbstständig-übermächtiges Subjekt zu werden scheint. Tatsächlich sind Staaten aber halluzinierte Klassen- oder Volksgemeinschaften. Verteidigungskriege, Eroberungskriege, territoriale und wirtschaftliche Interessen sind die Wirklichkeit staatlicher Selbsterhaltung. Im Zweifelsfall hat sie immer den Vorrang vor dem Lebensinteresse der Individuen – von der Ukraine bis in den Nahen Osten und den afrikanischen Kontinent.

Warum die Aufregung über »kulturelle Aneignung«, wenn Kultur und Aneignung doch unzertrennlich sind?

In Krisenzeiten schwindet das ›Vertrauen in den Staat‹. Beschwörungen sollen seine Schutzfunktion wieder glaubwürdig machen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert derzeit Forschungsprojekte »zum Thema ›Vertrauen in Demokratie und Staat‹«. Konkret soll es um die »Erforschung von Zusammenhängen zwischen Vertrauen in Staat und politisches System sowie Rezeption und Wirkweisen von Desinformation« gehen. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt … Aber wenn die Staatskritik in der Tradition von Marx über Antonio Gramsci bis Joachim Hirsch im medienöffentlichen Diskurs tabuiert wird, weil sie wahrlich nicht geeignet ist, das »Vertrauen« in das bestehende »politische System« zu stärken – dann wird es Zeit, die »atavistische Praxis der Verschleierung«, den Bann »einer blinden Abwehrpraxis« (Gertrud Koch) zu brechen.

Die demokratische Kultur ist auch durch autoritäre Aneignungen popkultureller Formen bedroht, die einmal emanzipatorisch gewesen ein mögen; man denke an die Memes der neuen Rechten und die Tiktok-Triumphe deutscher Faschisten auf ihrem Weg in die Parlamente. »Der Faschismus«, schrieb Benjamin Ende der 30er Jahre, »versucht, die neu entstandenen proletarisierten Massen zu organisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen, anzutasten.« Heutzutage organisiert er atomisierte Einzelne, die die rebellische Kehrseite ihrer autoritären Charakterstruktur in Hass auf Menschen umwandeln, die nicht aus Europa kommen. Im pseudokapitalismuskritischen Affekt gegen das System, gegen Brüssel oder das Welt- (Finanz-)Judentum kommt jene Ambivalenz zum Ausdruck, die für die Stellung zum tabuierten Bereich so charakteristisch ist.

In der Quasi-Öffentlichkeit der Online-Plattformen gilt jenes Tabu aber nicht überall. Sie ist zugleich entgrenzt und fragmentiert; sie funktioniert ohne Integrationsmechanismen oder rationale Regulative, wie auch Jürgen Habermas kürzlich festgestellt hat. Doch in den Resten der nichtfragmentierten Öffentlichkeit verstößt die radikale Analyse des Privateigentums an den Produktionsmitteln und des legalen Diebstahls beim Äquivalententausch gegen die Diskursregeln.

Wenn die Produktionsverhältnisse und ihre staatliche Ordnung tabuisiert werden, kehrt das verdrängte Dämonische zurück. Dämonisch auch in dem Sinne, dass niemand sagen kann, wie eine Befreiung von ihm praktisch gelingen könnte. Zugleich könnte das Tabu über der Kritik an den Produktionsverhältnissen auch ein Indikator für die ambivalente Haltung zu ihnen sein, sozusagen ein Indiz für »eine primitive Kritik […] der kapitalistischen Moderne« (Moishe Postone). Freud hatte eine »starke unbewusste Neigung« zur No-Go-Area des Tabuierten beobachtet. Diese Ambivalenz wirkt im Souterrain der diskursfähigen soziokulturellen Normen weiter und findet zuweilen ihren Weg in die höheren Etagen. Das Unbehagen an der industriekapitalistischen Kultur, das nicht zureichend über sich selbst aufgeklärt ist, kann sich als Ressentiment gegen vermeintliche Personifizierungen des Kapitals Bahn brechen. Dann wird »[d]ie mysteriöse Kraft des Kapitals […] den Juden zugeschrieben«. (Postone) Der Hass auf sie und ihren Staat gehört dann auch zur Ambivalenz einer Tabuzone – zu jener Mischung aus »Abwehr und Verlangen«, die dringend der rationalen Aufklärung bedarf.

Beim Text unseres Autors handelt es sich um eine Kurzfassung seines Vortrags auf den Architekturtheorietagen Ende vergangenen Jahres an der TU und der Universität der Künste Berlin.

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