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Der letzte Rätekommunist
Am 16. Dezember 2024 starb Henri Simon. Sein Leben lang blieb der französische Marxist dem Klassenkampf treu und ging dafür ungewöhnliche Wege
Als sich in der Woche vor Weihnachten die Nachricht verbreitete, Henri Simon sei gestorben, nahm man das ungläubig zur Kenntnis: Hatte der 102-jährige französische Marxist nicht schon längst die Unsterblichkeit erreicht? Bis in die jüngste Vergangenheit war er präsent mit Statements, Analysen und vor allem mit seiner Zeitschrift »Échanges et Mouvement«. Anlässlich seines 100. Geburtstages besuchten ihn noch zwei Kollegen, um für das Schweizer »Untergrund Blättle« ein Interview zu führen. Sie trafen Simon in seinem Appartement im 11. Arrondissement in Paris dabei an, wie er die jüngste Ausgabe von »Échanges et Mouvement« zusammentackerte und für den Versand eintütete, während er davon sprach, einen Text über die Auswirkungen der Covid-Krise auf den Weltmarkt fertigzustellen.
Mit Simon ist mutmaßlich der letzte Vertreter eines authentischen Rätekommunismus verstorben. »Authentisch« meint, dass er eng mit Leuten zusammenarbeitete – der holländischen Gruppe Daad en Gedachte –, die ihrerseits noch mit den Begründern des Rätekommunismus, Anton Pannekoek und Henk Canne Meijer, im Austausch waren. Simon steht für die organische Verbindung von drei Generationen des Rätekommunismus über 100 Jahre hinweg. Dabei war ihm der Begriff, der Name einer Strömung und die organisatorische Teilnahme an ihr, überhaupt nicht wichtig: Er benutzte schon lange, mindestens seit den 70er Jahren, keine »-ismen« mehr.
Ein ungewöhnlicher Linker
Sein Lebensweg ist, selbst für den schillernden französischen Linksradikalismus, durchaus ungewöhnlich. Im sehenswerten Dokumentarfilm »Henri Simon: Aktivismus im Widerspruch« (2018) setzt Simon in seinen autobiografischen Erzählungen mit dem November 1945 ein: seinem Eintritt ins Arbeitsleben – die Politisierung durch seine kommunistische Mutter und seine Zeit in der Pariser Résistance erwähnt er hier mit keinem Wort! Er wurde Angestellter bei einer großen Versicherung und Mitglied der Gewerkschaft CGT, deren Vergötterung einer harten Arbeitsmoral ihn schon bald anwiderte, 1953 flog er als Linksabweichler raus.
Zwei Jahre später war er 1955 maßgeblich an einem wilden Streik beteiligt und Mitglied der linkstrotzkistischen Gruppe Socialisme ou Barbarie um Cornelius Castoriadis und Claude Lefort. Nicht mehr bereit, das autoritären Gehabe von Castoriadis hinzunehmen, das für ihn mehr als nur eine persönliche Marotte war – da blitzte der Machtanspruch des distinguierten Intellektuellen über die angeblich führungsbedürftigen Proleten durch –, wagte Simon mit einer Minderheit die Spaltung und gründete 1958 das Netzwerk Informations et correspondances ouvrières (ICO).
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Der Name der Gruppe, wenn man sie überhaupt so nennen will, war wörtlich zu verstehen: Sie sollte Informationen und Berichte über Klassenkämpfe und die Situation in Betrieben zusammentragen, sollte ein Forum schaffen, in dem sich Militante aus Betrieben über ihre Erfahrungen austauschen konnten. Hier kristallisierte sich Simons eigentliches publizistisches Werk heraus, denn vor allem hat er an einer Chronik der Klassenkämpfe und anderen sozialen Auseinandersetzungen geschrieben. Legt man seine von 1957 bis 2015 erschienenen Broschüren nebeneinander, hat man einen beeindruckenden Überblick über die west- und osteuropäischen Klassenkämpfe dieser Jahrzehnte. Das heißt aber auf der anderen Seite: keine Theorie, keine philosophierende Geschichtsdeutung! Der geschulte Marxist, der, wie jeder Besucher seiner Wohnung bezeugen konnte, wahnsinnig viel gelesen hat, übte sich in Askese.
Aktivistischer Nicht-Aktivismus
Der Verzicht galt auch für die Praxis: Simon war strikt gegen Interventionismus, gegen die Bildung einer Avantgarde, gegen jede Form der dauerhaften Organisierung. Er dachte die Organisationskritik des Rätekommunisten – »Die soziale Revolution ist keine Parteisache« lautete ihr gegen die Bolschewiki gerichteter Schlachtruf aus den 1920er Jahren – konsequent bis zur Selbstaufhebung: nicht länger stand guter (partizipativer, kooperativer) Aktivismus schlechtem (elitären, jakobinisch-bolschewistischen) gegenüber, es ging gegen jeden Aktivismus. Nahm Simon an Streiks teil, dann nie im Namen einer Gruppe oder einer Sache, er sprach auf Versammlungen für keine Gruppe, die nicht direkt Teil des Klassenkampfs war. Die Situationisten um Guy Debord bewunderten ihn und die ICO-Leute für diese namenlose Radikalität und geißelten doch ihre abwartende Haltung. Simon grüßte zurück: für ihn waren die »Situs« unangenehm laute Miniatur-Lenins.
Der »Mai ’68« läutete das Ende des ICO-Netzwerks ein. Es zerbrach am eigenen Erfolg. Auf ihren Treffen erschienen plötzlich 100 Leute, statt der üblichen zehn oder zwanzig, und die wollten Politik machen, eine Strömung etablieren, die Organisationskritik institutionalisieren, was natürlich einen Streit über das »Wie« auslöste. Simon stiegt entnervt aus und rief mit Gefährten aus Italien, Holland und Großbritannien 1975 »Échanges et Mouvement« ins Leben und kehrte zur ursprünglichen Idee des reinen Informationsnetzwerks zurück.
Theorie und Träume
Nun kann man der Theorie nicht entkommen, man geht, wie unbewusst auch immer, von bestimmten Vorannahmen aus und zieht, auch das ein »theoretischer Akt«, Schlüsse aus ihnen. Deshalb existieren durchaus theoretische Texte von Simon, der interessanteste ist »The New Movement« von 1974. Hier macht er seine Entscheidung für die Askese transparent. Er geht davon aus, dass im Kapitalismus Klassenkampf und Gesellschaft identisch sind. Zu sagen, wir leben in einer Gesellschaft der Ausbeutung und Unterdrückung, ist nur die halbe Wahrheit (und auch noch die schlechtere Hälfte!). Denn zur Ausbeutung und Unterdrückung gehört immer der Widerstand dagegen, die Subversion, das Unterlaufen von Imperativen der Macht. Darin bilden sich zunächst flüchtige Zonen der Autonomie – der Selbstbestimmung und Selbstgenügsamkeit. Der Autonomie geht es nicht um Machtergreifung und proletarische Diktatur, sie ist noch nicht einmal staatsfeindlich.
Je mehr sich der Kapitalismus vergesellschaftet – hier im Sinne von: sich die gesamte Gesellschaft unterwirft –, desto mehr verlieren die Vorstellungen der »Alten Bewegung« an Bedeutung, wonach das Proletariat durch eine Kraft von Außen, durch eine Partei, zum Endkampf gegen Staat und Kapital geführt werden muss. Wird das Kapital total, also totalitär, so ist es an allen möglichen gesellschaftlichen Orten angreifbar. Die Kämpfe um Autonomie sind nicht mehr notwendig an den Arbeitsplatz gebunden. Simon begrüßte explizit die Schwulen- und Frauenbewegung, die Ökos, die jungen Hausbesetzer. Zuletzt sprach er sich für die Occupy-Bewegung aus.
Damit wird deutlich: Er lehnte Theorie ab, sofern sie nicht organisch aus den Kämpfen selbst hervorgeht. Wenn kapitalistische Gesellschaft Klassenkampf ist, dann ist auch die Theorie Teil dieser Klassenkämpfe. »Wir müssen uns davor hüten, zu glauben, dass die Sammlung von Informationen über frühere Kämpfe und die Analyse von Theorien auf der Grundlage dieser Informationen Entwürfe für künftige Aktivitäten liefern werden«, schreibt er 1974. »Was aus einem Kampf hervorgeht, ist an die Notwendigkeit dieses Kampfes angepasst und kann deshalb nicht als Kriterium für die Beurteilung dessen dienen, was aus anderen Kämpfen hervorgehen wird.«
Simons Askese, sein aktivistischer Nicht-Aktivismus, seine Theorielosigkeit, die auf klar definierten theoretischen Annahmen beruht, befremdete selbst sein engstes – familiäres – Umfeld. Er trank nicht, äußerte sich lange Jahre nicht zu Kunst, Theater oder Literatur (seine zweite Frau war immerhin Dichterin!) und galt auch engsten Genossen als, sagen wir, emotional gedämpft. Im Dokumentarfilm fragt ihn schließlich eine Gefährtin, Christiane, warum er, selbst im Pariser Mai, nie öffentlich von seinen Träumen (zu denen er sich erst an seinem Lebensende bekannte) geredet habe. Aber es ging doch um Tagespolitik, um nüchterne Einschätzungen der Situation, entgegnet er. Christiane antwortet: »Das ist der Grund, warum die Streiks immer böse enden, weil unsere Aktivisten ihre Reden an die Tagespolitik anpassen.« Immerhin lachen die beiden darüber.
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