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Housing First: Zuerst ein Dach über dem Kopf
Wohnungslosigkeit in Deutschland steigt. Wien und Zürich zeigen, wie sich das durch Prävention und langfristige Planung ändern kann
1992, Manhattan, New York, USA: Die Organisation Pathways Housing nimmt in einer Tageseinrichtung, in der Obdachlose essen, sich wärmen und waschen können, ihre Arbeit auf. Von dort aus entwickelt sie das Konzept Housing First, zu Deutsch »Unterbringung zuerst«. Die Idee: Betroffene Menschen erhalten ein unbefristetes Mietverhältnis, mit allen zugehörigen Rechten und Pflichten. In weiterer Folge können sie, selbstbestimmt, durch Sozialhilfe unterstützt werden, um sich um andere Problemlagen im Leben zu kümmern.
Wohnen als Menschenrecht – dafür setzen internationale Leuchtturmprojekte vor allem auf Prävention und langfristige Planung. Das Konzept ist mittlerweile auch ein integraler Teil des Kampfes gegen Obdach- und Wohnungslosigkeit in Europa und des Ziels der Lissabonner Erklärung von 2021, Obdachlosigkeit in der EU bis 2030 zu überwinden. Wohnungslos sind jene, die in staatlichen Unterkünften oder bei Bekannten unterkommen. Obdachlos, also auf der Straße, leben in EU- und OECD-Staaten derzeit um die zwei Millionen Menschen, so Ali Bargu, sozialpolitischer Referent der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). »Dabei handelt es sich um die extremste Form von Armut, die ein hohes gesundheitliches und psychisches Risiko mit sich bringt«, stellt er fest.
Das zeigt sich auch im neuen Wohnungslosenbericht der deutschen Regierung. Laut ihm verdoppelte sich die Zahl Wohnungsloser von 2022 bis 2024 auf über 500 000 Menschen. Etwas mehr als die Hälfte der verdeckt Wohnungslosen, die bei Bekannten unterkommen, und gute zwei Drittel der Wohnungslosen ohne Unterkunft hatten demnach eine langfristige und dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigung. 56 Prozent der Wohnungslosen ohne Unterkunft litten nach eigener Einschätzung an einer dauerhaften psychischen Beeinträchtigung, unter den verdeckt Wohnungslosen waren es 44 Prozent.
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Zum Vergleich: Laut dem »Mental Health Report 2024« des Versicherungsunternehmens AXA litten rund 31 Prozent aller Deutschen unter einer psychischen Erkrankung. Mehr als die Hälfte der auf der Straße lebenden Menschen und verdeckt Wohnungslosen machte zudem Erfahrung mit Gewalt, 60 Prozent in beiden Gruppen wurden aufgrund ihrer Wohnungslosigkeit schon einmal beschimpft, benachteiligt oder ausgegrenzt.
Damit Housing First funktioniert, muss es als allumfassendes Konzept angelegt werden und so auch gesundheitspolitische Maßnahmen umfassen, so Bargu. Er nennt als Beispiel ein Projekt in Den Haag in den Niederlanden. Dort hatten Obdachlose zwar Anspruch auf medizinische Versorgung, konnten diese ohne Melde-Adresse aber nicht wahrnehmen. Vor dem Rathaus wurden deswegen Postkästen aufgestellt, an die Menschen ohne Wohnadresse ihre Gesundheitskarten senden lassen konnten.
Wien in Österreich hat wiederum mit seinem breit aufgestellten sozialen Wohnbau gute Grundvoraussetzungen für Housing First geschaffen. Etwa die Hälfte der Bewohner*innen lebt in geförderten Wohnungen, die zu vergünstigten Preisen direkt von der Stadt vermietet oder über gemeinnützige Wohnbauträger von der Stadt gefördert werden und deswegen Mietpreisdeckel haben.
»Das hat starken Einfluss auf den Wohnmarkt und die Prävention von Wohnungslosigkeit«, sagt Veronika Scharer vom Fonds Soziales Wien der österreichischen Hauptstadt. Zugleich setzte man hier ab 2012 auf den Housing-First-Ansatz, um möglichst rasch langfristig gesichertes Wohnen zu vermitteln. Das ging einher mit diversen weiteren Maßnahmen, wie Delogierungspräventionsangebote, die dazu dienen, dass zahlungsunfähige Mieter*innen ihre Wohnung nicht verlassen müssen. Auch ein vereinfachter Zugang zu Wohnraum und Beratung für junge Erwachsene oder Haftentlassene gehört dazu.
Im Schweizer Zürich mit seinen rund 420 000 Einwohner*innen dagegen, so erzählt es Kilian Koch von Housing First Zürich, leben derzeit etwa zwei Dutzend Obdachlose. Das hänge stark damit zusammen, dass man schon in den 90er Jahren begonnen hatte, sich am Housing-First-Ansatz zu orientieren. So wurde beispielsweise schon damals der Konsum illegaler Substanzen in Wohungslosenunterkünften toleriert.
»Housing-First-Ansätze müssen zu Kernstücken im Kampf gegen Wohnungslosigkeit werden.«
Ali Bargu OECD
Allein in Hamburg leben dagegen laut Wohnungslosenbericht 3800 Menschen auf der Straße. Dort startete 2022 ein erstes Housing-First-Pilotprojekt, bei dem 30 Wohnungen vermittelt werden sollten. »Housing-First-Ansätze müssen anstelle von Pilotprojekten zu Kernstücken im Kampf gegen Wohnungslosigkeit werden«, betont Bargu.
Um das Problem in Deutschland anzugehen, beschloss die Ampel den Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit mit dem Ziel, diese in Deutschland bis 2030 abzuschaffen. Die Bemühungen seien sichtbar, sagt Sabine Bösing von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. »Jetzt warten wir auf konkrete Maßnahmen.«
Laut OECD-Konzept müsse künftig europaweit die Datenlage zu Wohnungslosigkeit verbessert werden, Projekte besser finanziert werden, Menschen mit eigenen Erfahrungen stärker eingebunden werden und es benötige bessere Arbeitsbedingungen für Fachkräfte, meint Bargu. »Für Housing First brauchen wir mehr Mitarbeitende. Sie sind aber aktuell oft prekär beschäftigt. Das müssen wir ändern.« Housing First lasse sich eigentlich gut vermarkten, sagt Bargu weiter. Denn Staaten sparen auf Dauer Sozialausgaben, wenn sie das Projekt sinnvoll umsetzen.
Zurück nach New York: Hier zeigt sich, was passieren kann, wenn die Maßnahme nicht als umfassendes Konzept integriert wird. 2023 lebten dort 90 000 Menschen auf der Straße. Im selben Jahr erreichte die Obdachlosigkeit landesweit ihren traurigen Höhepunkt. Heute erinnert kaum jemand daran, dass Housing First seinen Ursprung im US-Epizentrum der Krise hatte. Die Leuchtturmprojekte befinden sich anderenorts.
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