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Gesucht: Eine moderne linke Erzählung
Abschluss der nd-Serie »Die Linke – vorwärts oder vorbei?«: Der Alltag der Menschen und die politische Aufgabe »in ihrer Gänze«
Im Vorfeld der Bundestagswahl wird jede Partei möglichst öffentlichkeitswirksam ihr Wahlprogramm mit Forderungen und Versprechen auf allen möglichen Politikfeldern vorlegen. Ob ausgesprochen oder nicht, hinter den einzelnen Programmpunkten wird eine mehr oder weniger ausgearbeitete Erzählung über das Gesellschaftsbild der jeweils handelnden Kräfte, vom Charakter der zu konservierenden oder für die Zukunft erstrebten Gesellschaft stehen.
Was ist der Kern einer modernen linken Erzählung? Die plurale gesellschaftliche Linke hat wichtige Elemente eines solchen Narrativs hervorgebracht, aber bisher keine unserer Epoche gemäße zündende Gesamterzählung. Dieser Umstand trägt erheblich zu ihrer gegenwärtigen Schwäche bei. Der Anspruch, mit einer eigenen linken Erzählung der Komplexität und Kompliziertheit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu entsprechen, steht der notwendigen Forderung nach Einfachheit und Verständlichkeit entgegen – anders die schlichte neoliberale Marktrethorik oder die rechte Mystik des Völkischen. Die Vielfalt der Realität bringt vielfältige Ansätze einer emanzipatorischen Erzählung hervor, die sich aber ohne Mühe nicht zu einem Ganzen fügen. Sie werden wohl erst in intensiven öffentlichen Diskussionsprozessen zusammengeführt werden.
Prof. Dieter Klein, Jahrgang 1931, ist Ökonom sowie Politikwissenschaftler und hatte einen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität inne. Maßgeblich wirkte er am Forschungsprojekt »Moderner Sozialismus« mit. Dieter Klein ist Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne, gehört dem Willy-Brandt-Kreis an und arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Michael Brie hat erstmalig drei Skizzen aus dem Jahre 1943 für ein geplantes Buch eines der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, Karl Polanyi, publiziert. Eines von Polanyis Prinzipien für eine emanzipatorische Erzählung lautet: »Diese Erzählung soll die des einfachen Bürgers sein.« Die Menschen haben ihre vielen »kleinen« Erzählungen:
- die Gesundheit ist mir das Wichtigste,
- die Bildung und Zukunft der Kinder sind mir am wichtigsten,
- in sozialer Sicherheit leben,
- ohne Angst leben,
- ohne Frieden ist alles nichts,
- fürs Überleben muss die Umwelt gerettet werden,
- gute Arbeit ist die Grundlage für alles,
- die Verhältnisse geschlechtergerecht gestalten usw.
Diese Erwartungen aufzunehmen und ihr Gemeinsames zu betonen, bedeutet, dass im Zentrum der emanzipatorischen Erzählung humanistischer Akteure, eine moderne Linke eingeschlossen, zwei archimedische Punkte als Orientierung aller Politik stehen sollten:
- Sozial gleiche Teilhabe für jede und jeden an den Grundbedingungen ihrer freien Persönlichkeitsentfaltung – vor allem in Gestalt eines erstrangigen Gewichts gemeinwohlorientierter sozialer Infrastrukturen (Bildung, Gesundheit, Wohnen, Mobilität, Information usw.)
- Bewahrung von Natur und Frieden als Grundbedingungen allen Lebens.
Das heißt, sozialer Gerechtigkeit als Markenkern linker Politik und, mit dieser Verpflichtung, einer Umverteilung von Ressourcen, Macht und Lebenschancen erstrangiges Gewicht in einer linken Erzählung zuzumessen. Anders formuliert: Der Kern einer linken Erzählung läuft auf eine zentrale Stellung der Menschlichkeit als Maß aller wichtigen Entscheidungen in der Gesellschaft hinaus.
Wer im Wahlkampf für Die Linke wirbt, sollte diesen Zusammenhang stets im Kopf haben: zwischen den einzelnen Erzählungen, konkreten Träumen, Wünschen und Forderungen der Bürgerinnen und Bürger und der zentralen Idee der Menschlichkeit und sozialen Gerechtigkeit als dem zusammenführenden Angelpunkt einer linken Erzählung.
Wenn dagegen CDU/CSU und FDP weiter an einer Politik festhalten, die zu einer extremen Reichtumskonzentration führt, fehlen die Mittel für eine strategische staatliche Industriepolitik, für den Ausbau der öffentlichen sozialen Infrastrukturen, für Schulen, bezahlbare Wohnungen und Pflegeheime, öffentlichen Personenverkehr auf dem Lande, Jugendtreffs und Kultur. Gerechte Steuerpolitik, höhere Belastung von Monopolgewinnen, von Millionären und Milliardären und Entlastung der Bevölkerungsmehrheit sowie Abgaben auf Großvermögen sind in einer linken Erzählung und Politik die Konsequenzen dieses Befundes.
Auch das Festhalten an der Schuldenbremse bedeutet, dem Staat die Mittel für strategische Investitionen zu verweigern, also vorrangig auf den Markt zu setzen, obwohl dieser sozial und ökologisch blind oder kurzsichtig ist. »Der Markt« wird die erforderlichen Mittel für die Gesundung der Wirtschaft auf einem sozialen und ökologischen Pfad nicht aufbringen. Die Unternehmensberatung McKinsey schätzt, dass Klimaneutralität für Deutschland bis 2045 Investitionen im Umfang von rund sechs Billionen Euro erfordern wird.
Als ein weiteres Prinzip eines emanzipatorischen Narrativs formulierte Polanyi: »Diese Erzählung soll praktisch sein.« Praktisch in doppeltem Sinne:
Erstens muss solche Erzählung realisierbare Schritte in überschaubarer Zeit einschließen und mit dieser Aussicht Menschen mobilisieren können. Das bedeutet in der Regel, Aufgaben in Angriff zu nehmen, die mit Reformschritten im Rahmen der gegebenen Verhältnisse zu bewältigen sind und die Akteure nicht von Beginn an überfordern. Wenn dabei aber die Grenzen des Systems hervortreten, wenn etwa bezahlbare Mieten an den Profitzielen der Finanzinvestoren scheitern, dann gehört zum praktischen Realismus auch, die Grenzen des Systems zu benennen und anzugreifen. Genau das geschah in Berlin mit dem Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«. Es gehört zur Erzählung der Linken, dass sie den Weg doppelter – systeminterner und systemüberschreitender – Transformation weist.
Zweitens muss in einer emanzipatorischen Erzählung den vielen konkreten einzelnen Projekten und Initiativen der Bürgerinnen und Bürger zentrale Bedeutung zukommen, in denen diese dabei sind, das eigene Leben und die Gesellschaft zu verbessern: Verteidigung von Arbeitsplätzen, Schulprojekte, Spielplätze, Umweltprojekte, bezahlbarer öffentlicher Verkehr, Protest gegen rechts, Widerstand gegen Mietwucher, bessere Personalbesetzung in Kitas und Krankenhäusern usw. Was nicht im Alltag der »einfachen Leute« verankert ist, hat keine Zukunft. Ohne Druck von unten kein Wandel oben. Eine linke Erzählung betrachtet die Welt von unten.
»Diese Erzählung soll vollständig sein im Sinne, dass sie die Szenerie des menschlichen kollektiven Lebens in all ihrer Breite und Tiefe in den Blick nimmt, und dass sie die Aufgabe in ihrer Gänze formuliert«. So eine weitere Überlegung Polanyis.
»In ihrer Gänze« heißt etwa: Wenn Die Linke ein menschenwürdiges Leben für alle einfordert, spricht sie zunächst von der elementarsten aller Freiheiten, überhaupt zu überleben und nicht vorzeitig zu sterben (Amartya Sen). Sie spricht von einem Leben ohne Krieg und davon, Frieden nicht durch noch mehr Tote in eskalierenden Kriegen, sondern durch den Vorrang von Diplomatie und Verhandlungen zu erstreben – bei Sicherung eigener Verteidigungsfähigkeit und Schritten zu Angriffsunfähigkeit. Leben erfordert zugleich kategorisch, eine endgültige Klimakatastrophe abzuwenden und den ökologischen Umbau enorm zu beschleunigen.
Die Linkspartei steckt tief in der Krise, braucht neues Führungspersonal und dringend einen neuen Aufbruch. Aber wie und wohin? »nd« startet eine Debattenserie über Probleme und Perspektiven: »Die Linke – vorwärts oder vorbei?« Alle Texte der Serie finden Sie hier.
Das wiederum heißt, mit ungeheurer Kraftanstrengung die Wirtschaft von rücksichtslosem Wachstum auf umweltschonende Entwicklung zugunsten menschlicher Bedürfnisse umzustellen. Wachstum und Entwicklung sind zwei verschiedene Schuhe. Der dafür erforderliche Strukturwandel schließt schmerzliche Brüche, große Übergangsprobleme und viele Unsicherheiten ein. Folglich muss der nachhaltige Umbau der Wirtschaft mit Sicherheitsgarantien für die Betroffenen geschehen, verbunden mit dem Ausbau von solidarischen Sozialsystemen. Und nicht zuletzt verbunden mit entschieden erweiterten Entscheidungsrechten für die Menschen: sozial-ökologische Transformation als reale Demokratisierung.
Frieden, sozial ökologischer Umbau, Strukturumwälzung der Wirtschaft, erneuerter Sozialstaat und erneuerte Demokratie – in Gänze miteinander verbunden. Das Ganze zusammengehalten durch einen unantastbaren Maßstab für die Gesamtheit von Entscheidungen: Menschlichkeit! Das alles bedeutet:
»Diese Erzählung sollte sich den ungelösten Problemen unserer Zeit zuwenden … Diese ungelösten Probleme verursachen die Katastrophe, prägen den Kurs der Ereignisse und dominieren immer noch die Situation.« Als ungelöste globale Probleme nannte Karl Polanyi damals, 1943 (!), vorrangig: Kriege, Faschismus, Regulierung der Märkte, Kooperation zwischen friedlichen Imperien und, hellsichtig, sich »an China orientieren, das auf der Toleranz der Lebensweise anderer Völker beruht«. Schon jedes einzelne dieser Probleme zu bewältigen, ist eine Jahrhundertaufgabe. Eine linke Erzählung muss aber die Zusammenhänge ihrer Bearbeitung erklären und sie zudem stets auf die Sorgen der »einfachen Bürger« beziehen. Sie muss beispielsweise verständlich machen, wie tief und auf welche Weise Krieg und Umweltkrise in die alltägliche Lebenswelt der Einzelnen eindringen.
Nicht zuletzt forderte Polanyi, in einer einfachen Sprache davon zu berichten, »wie alles begann, wo die Verantwortung lag für die zurückliegenden Fehler … Welche Fehler vermeidbar waren, ob sie aus moralischer, intellektueller oder politischer Schwäche hervorgingen.« Einer einfachen Sprache ermangelt es der Linken allzu häufig. Schon Rosa Luxemburg schrieb der Linken ins Stammbuch: »Es ist ja alles so konventionell, so hölzern, so schablonenhaft.« Doch »andere Zeiten wollen andere Lieder haben. Aber eben Lieder, unser Geschreibsel ist ja meistens kein Lied, sondern ein farbloses und klangloses Gesurr, wie der Ton eines Maschinenrades. … Ich glaube, dass man jedes Mal, jeden Tag, bei jedem Artikel wieder die Sache durchleben, durchfühlen muss, dann würden sich auch frische, vom Herzen und zum Herzen gehende Worte für die alte, bekannte Sache finden«.
Für viele einzelne Politikfelder verfügt Die Linke übrigens durchaus über ausgearbeitete Konzepte. Aber der Öffentlichkeit sind ihre Vorstellungen für eine solidarische Rente, für gerechte Steuerpolitik, Mobilität usw. kaum bekannt. Immer wieder müssten sie in der Rahmung einer linken Erzählung vom Führungspersonal der Linken in der Öffentlichkeit zur Geltung gebracht werden. Aus Platos Überlegungen zum Frieden ist die Klage des Schülers überliefert: »Meister, Sie sprechen ja immer über dasselbe.« Platos Antwort: »Mein Freund, es geht auch immer um dasselbe.«
Zuletzt erschien in der nd-Serie »Die Linke – vorwärts oder vorbei?«: »Eine andere Autowirtschaft ist möglich« von Thomas Goes (»nd.DerTag« 7.1.25).
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