Ukraine-Krieg: Putins Mythen

Wie Russland den Antifaschismus zur Rechtfertigung des Krieges in der Ukraine benutzt

  • Anastasia Spartak
  • Lesedauer: 6 Min.
  • »Russland bekämpft Neonazis in der Ukraine«
Invasion mit Hammer und Sichel: Bei seinem Krieg in der Ukraine beruft sich Russland auf den sowjetischen Mythos des Nazi-Bezwingers.
Invasion mit Hammer und Sichel: Bei seinem Krieg in der Ukraine beruft sich Russland auf den sowjetischen Mythos des Nazi-Bezwingers.

Wiederholt hat Russlands Präsident Waldimir Putin die Ukraine als »Neonazi«-Regime bezeichnet und die »Entnazifizierung« zum Ziel seiner »Militärischen Sonderoperation« ernannt. Was das eigentlich bedeutet, hat allerdings selbst nach fast drei Jahren Krieg niemand erklärt. Im Mai 2022 berichtete das russische Oppositionsmedium »Projekt«, die Russen würden die Bedeutung des Begriffs einfach nicht verstehen, woraufhin die Behörden die Verwendung im Fernsehen drastisch reduzierten.

Menschen im postsowjetischen Raum verstehen Verweis auf »Nazis« und »Faschisten« auch ohne Erklärungen. Vor diesem Hintergrund muss man sich die Besonderheiten bei der Verwendung dieser Begriffe stets vor Augen halten. Für den Sieg über den deutschen Faschismus zahlte die Sowjetunion einen hohen Preis. Mindestens 27 Millionen Menschen starben, jede Familie verlor einen oder mehrere Verwandte. Bis heute sitzt das Trauma so tief, dass die wahre Bedeutung der Wörter verblasst.

In der Wahrnehmung der Russen sind »Faschisten« und »Nazis« diejenigen, die 1941 ihr Heimatland angegriffen und Millionen Menschen töteten. Daher werden »Nazis« und »Faschisten« mit dem absolut Bösen assoziiert und als moralische Etiketten, Beleidigungen und Zuschreibungen für Russlands geopolitische Feinde verwendet. Die Propaganda nutzt dies und bezeichnet ukrainische Soldaten als »Nazis«, »Ukronazis«, »Nationalisten« oder einfach als »Bandera-Anhänger«.

  • »Russland setzt die antifaschistische Mission der UdSSR fort«

Nach dem Ende der Sowjetunion entstand auf ihren Trümmern mit der Russischen Föderation ein neuer Staat, der ihr genaues Gegenteil war. Sowjetische Produktionsmittel wurden von einer neuen Klasse von Unternehmern privatisiert. Groß angelegte Privatisierungen und harte neoliberale Reformen brachten das Land an den Rand einer humanitären Katastrophe: Die Bevölkerung ging um 25 Millionen Menschen zurück und die Gesellschaft wurde auf ungeheure Weise ausdifferenziert.

In der Gesellschaft entstand ein ideologisches Vakuum. 1996 versuchte Präsident Boris Jelzin mit der Schaffung einer nationalen Idee dieses Vakuum zu füllen, scheiterte jedoch. Sein Nachfolger Wladimir Putin weigerte sich, die sowjetische Vergangenheit vollständig zu leugnen und schlug vor, eine neue nationale Idee auf der Grundlage des Sieges vom Mai 1945 zu entwickeln. Es begann die Institutionalisierung des historischen Gedächtnisses. Der Große Sieg füllte das ideologische Vakuum, vereinte die Gesellschaft um die Regierung, die die Rolle des Hüters des nationalen Mythos übernahm, und wurde zu einem Symbol, das Generationen von Russen trotz der tiefen Spaltung verbinden konnte.

Der Sieg im Zweiten Weltkrieg erhielt einen besonderen gesetzlichen Status. Im Jahr 2012 sprach Putin davon, Russland habe das moralische Recht, gegen den Faschismus zu kämpfen. Zwei Jahre später unterzeichnete er vor dem Hintergrund der Kämpfe im Donbass ein Gesetz zum Verbot faschistischer Propaganda.

  • »Neonazis sind in Russland verboten«

Nach dem Ende der UdSSR wurden der sowjetische Internationalismus und das Klassenbewusstsein durch einen bürgerlichen Nationalismus ersetzt – und das in allen ehemaligen Sowjetrepubliken. Während man im Russland der 1990er Jahre dem Nationalismus freien Lauf ließ, übernahmen in den 2000ern die Behörden die Zügel und spielten die nationalistische Karte selbst aus. Damit konnten sie gleich mehrere Probleme lösen: sich vor Massenunruhen schützen, Ultrarechte kontrollieren und sie gegen einen äußeren Feind ausspielen.

Im ersten Jahrzehnt von Putins Herrschaft nutzte der Kreml den gesteuerten Nationalismus als Mittel zur politischen Konsolidierung. Im Jahr 2005 wurde die Naschi-Bewegung gegründet, die sich zunächst als demokratische antifaschistische Jugendbewegung bezeichnete. Für den Machtblock der Organisation waren rechtsextreme, in Straßenkämpfen erfahrene Fußball-Hooligans verantwortlich, die mit der internationalen Neonazi-Gang Blood & Honour Combat 18 verbunden sind. Sie verprügelten Aktivisten und Journalisten, griffen Büros von Oppositionsparteien an und bewachten wichtige Einrichtungen. Ebenfalls 2005 fand erstmals die wichtigste Großaktion von Russlands Nationalisten, der Russische Marsch, am Tag der Nationalen Einheit (4. November) statt.

In den 2000ern waren die Rechtsextremen auf ihrem Höhepunkt. Im ganzen Land entstanden Dutzende Organisationen, die durch Straßenterror an die Macht kommen wollen. Verübten Nazis im Jahr 2005 152 Morde, waren es 2009 bereits 548.

Die Politik des kontrollierten Nationalismus endete 2010, als am 11. Dezember mehrere Zehntausend Fußball-Hooligans auf dem Manege-Platz randalierten. Der Kreml erkannte, dass die Rechtsextremen außer Kontrolle geraten waren und schlug sie mit Polizeirepression nieder. Letzten Endes spaltete der Konflikt im Südosten der Ukraine ab 2014 die Rechtsextremen: Sich offen bekennende Neonazis flogen in die Ukraine, während sich die »Imperialisten« auf die Seite der international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk schlugen.

  • »Russland stellt sich international dem Faschismus entgegen«

Seit dem Einmarsch in die Ukraine hat Russland mindestens vier »internationale antifaschistische Foren« abgehalten. Alle verurteilten den Neonazismus in der Ukraine und sollten die Invasion in den Augen der Weltgemeinschaft legitimieren.

Der Kreml bedient sich auf internationaler Bühne mindestens seit 2010 antifaschistischer Rhetorik. Damals wurde die pseudozivilgesellschaftliche NGO Welt ohne Nazismus unter Leitung von Boris Schpigel, einem Oligarchen und ehemaligen Mitglied des russischen Föderationsrates, gegründet. Westliche Medien bezeichneten sie als Scheinorganisation, die die Arbeit von NGOs imitieren soll. Im Jahr 2015 wurde Welt ohne Nazismus aufgelöst, und 2021 Schpigel wegen Korruption verhaftet.

Auf höchster diplomatischer Ebene hat Russlands antifaschistische Rhetorik Niederschlag in jährlichen Resolutionen der Vereinten Nationen »über die Verherrlichung des Nazismus« gefunden. Russlands Bericht von 2019 kritisiert ultrarechte Parteien wie die AfD, Rassemblement National und die FPÖ. Gleichzeitig unterstützte Russland nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 offen diese Parteien sowie Italiens Lega Nord und Ungarns Jobbik und hoffte auf deren Hilfe bei der Aufhebung der Sanktionen.

Putins zynischer Kapitalismus

Um die Motivation Putins und der herrschenden Klasse in Russland für den Krieg zu verstehen, muss man die Bedingungen für ihre Entstehung betrachten. Die moderne russische Elite entstand in den 1990er Jahren unter der rigidesten Version des Ultrakapitalismus, der sich allmählich in das verwandelte, was Wissenschaftler politischen Kapitalismus nennen. Dabei handelt es sich um ein Marktsystem, in dem die wirtschaftliche und die politische Elite zu ihrem beiderseitigen Vorteil zusammenarbeiten und dessen besonderes Merkmal darin besteht, dass die politischen Kapitalisten informelle Verbindungen zum Staat nutzen, um Profit zu schöpfen.

Für Putin und seine Klasse politischer Kapitalisten ist der Antifaschismus ein ideologisches Instrument, mit dem man sehr leicht manipulieren kann. Daher ist in Russland selbst die Idee des Antifaschismus erstaunlich schlecht artikuliert. Das macht es leicht, jeden Gegner Russlands als Faschisten abzustempeln, weshalb sich heute sogar die Rechtsextremen in Russland manchmal zynisch als Antifaschisten bezeichnen. Am 9. Mai 2014, auf dem Höhepunkt der Kämpfe im Donbass, sagte der erfolgreichste nationalistische Politiker Russlands, Dmitri Rogosin, von der Bühne in Transnistrien: »Heute ist es äußerst wichtig, dass alle aktive Antifaschisten sind, denn die Geißel des Faschismus lebt weiter.«

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