Auf der Flucht vermisst

In Genf tagt erstmals ein Weltkongress gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen, das auch Migrierende betrifft

  • Andrea Staeritz, Matthias Monroy
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein muslimischer Friedhof für Migrant*innen in der Nähe der griechisch-türkischen Grenze. Viele der Toten konnten nicht identifiziert werden.
Ein muslimischer Friedhof für Migrant*innen in der Nähe der griechisch-türkischen Grenze. Viele der Toten konnten nicht identifiziert werden.

Der erste Weltkongress gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen, der an diesem Mittwoch und Donnerstag in Genf zusammentritt, widmet sich auch dem Schicksal von Migrant*innen und Flüchtenden. Die Dimension des Problems ist riesig: Zehntausende Menschen gelten als auf dem Mittelmeer vermisst, weitere Zigtausende auf den Routen durch die Sahara und vermutlich ähnlich viele auf dem Weg von Zentralamerika in die USA. Viele werden zudem in Folterlagern in Ländern wie Libyen festgehalten oder von Nachbarstaaten in die Wüste deportiert.

Mehrere Nichtregierungsorganisationen, die sich in Genf zu Wort melden wollen, kämpfen gegen diese Entwicklung. Sie kritisieren, dass die zunehmende Aufrüstung an Grenzen Schutzsuchende auf immer gefährlichere Routen zwingt – ein Vorgehen, das nicht nur von Aktivist*innen als staatliches Verschwindenlassen oder zumindest als Beihilfe dazu interpretiert wird.

Bekannt wurde der Begriff vor allem durch die argentinische Bewegung der Madres de Plaza de Mayo sowie ähnlichen Organisationen von Angehörigen in weiteren Ländern Lateinamerikas. Sie setzten die aktive Verwendung des Wortes durch und sprechen davon, dass Menschen »verschwunden wurden«. Damit soll sichtbar werden, dass Täter*innen das Verschwindenlassen zur Repression unliebsamer Kritik und Opposition einsetzen. Weil die Familien nicht wissen, ob ihre Angehörigen noch am Leben sind, werden auch sie dadurch eingeschüchtert und von politischer Aktivität abgehalten.

Die Vereinten Nationen betrachten das Verbrechen als schwere Menschenrechtsverletzung. Im Jahr 2006 verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen und setzte damit einen wichtigen Meilenstein. Allerdings haben bislang nur 76 der 193 UN-Mitgliedsstaaten das Übereinkommen ratifiziert.

Von Verschwindenlassen spricht man, wenn ein Freiheitsentzug unter Beteiligung oder Duldung von Staatsbediensteten geschieht, dieser Freiheitsentzug dann aber geleugnet wird. Es lässt sich daher als »heimliche Freiheitsberaubung durch Staaten« zusammenfassen. Obwohl viele vermisste Migrant*innen auf den ersten Blick nicht unter diese Definition fallen, sind die Phänomene miteinander verbunden oder gehen ineinander über. Um dem drohenden Verschwindenlassen in ihren Heimatländern zu entgehen, sind Aktivist*innen beispielsweise gezwungen, sich auf gefährliche Reisen zu begeben.

Auch die UN-Arbeitsgruppe zum gewaltsamen und unfreiwilligen Verschwindenlassen hat diese Realitäten anerkannt und bereits 2017 einen umfassenden Bericht angenommen, der sich mit dem Phänomen im Kontext der Migration befasst. Migrant*innen sind demnach besonders gefährdet, Opfer von Menschenrechtsverletzungen wie dem Verschwindenlassen zu werden. Zu den Risiken zählen inoffizielle und oft tödliche Migrationsrouten sowie der Menschenhandel, indem die Betroffenen von kriminellen Netzwerken ausgenutzt oder verschwunden werden.

Die UN-Arbeitsgruppe bescheinigt Staaten daher eine zentrale Verantwortung, das zu verhindern. Darin eingeschlossen ist etwa das Verbot der Rückführung in Länder, in denen eine entsprechende Gefahr besteht. Zudem sollen die Regierungen systematisch Daten über Migrant*innen und deren Aufenthaltsort erfassen. Bekannte Massengräber oder improvisierte Bestattungsplätze entlang von Migrationsrouten sollen untersucht werden. Mithilfe von internationalen Datenbanken sollen zudem Informationen über verschwundene Migrant*innen ausgetauscht werden.

Angehörige vermisster Migrant*innen leiden unter den gleichen Folgen wie jene von politisch Aktiven, die in Gefängnissen, irregulären Lagern oder Folterkellern verschwinden oder getötet werden: Im globalen Süden warten sie auf eine Nachricht von Söhnen, Töchtern, Ehefrauen und -männern, ihre Kinder wachsen bei Verwandten auf. Deshalb betont auch der UN-Bericht das Recht Angehöriger auf Information über den Verbleib der Verschwundenen. Staaten sollen die Familien von Migrant*innen insbesondere bei Suchprozessen unterstützen. Auch von Entschädigungen ist die Rede.

Der diese Woche stattfindende Weltkongress gegen das gewaltsame Verschwindenlassen wird von mehreren Abteilungen der Vereinten Nationen organisiert. Eingeladen sind zivilgesellschaftliche Akteure, internationale Institutionen sowie politische Vertreter*innen von Staaten. Diese dürften auch über die sogenannte Allgemeine Bemerkung zum Kontext der Migration debattieren wollen, die ein UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen im September 2023 beschlossen hat. Die ist zwar nicht bindend. Jedoch werden die Regierungen aufgefordert, Maßnahmen zum Schutz der Migrant*innen vor Verschwindenlassen und zur Bekämpfung der Straflosigkeit der Täter*innen entwickeln.

Am Ende des Weltkongresses soll ein Aktionsplan beschlossen werden. Die teilnehmenden Organisationen haben dafür gesorgt, dass darin auch die verschwundenen Migrant*innen vorkommen. Betont wird, dass Suchprozesse auch »in Migrationskontexten« wichtig für die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit sind. Gefordert wird, Handlungen zu verhindern und zu bestrafen, die verschwundene Personen, ihre Familien oder Unterstützer*innen kriminalisieren, einschüchtern, verfolgen oder stigmatisieren. Detaillierte Maßnahmen werden jedoch nicht vorgeschlagen.

In Europa könnten die Organisationen der Zivilgesellschaft deshalb auf den Europarat bauen, dessen Parlamentarische Versammlung im vergangenen Jahr eine bemerkenswert weitreichende Resolution verabschiedet hat. Demnach sollen die Mitgliedstaaten – darunter auch die Türkei, Serbien und Aserbaidschan – sichere und legale Migrationswege eröffnen sowie humanitäre Hilfe entlang der Routen gewährleisten, einschließlich Such- und Rettungsaktionen zu Land und zu Wasser. Die Resolution sieht außerdem vor, dass in allen Ländern zentrale Anlaufstellen für Angehörige vermisster Migrant*innen geschaffen werden. Um den Familien die Mitwirkung bei der Identifizierung zu ermöglichen, sollen beschleunigte Visa-Verfahren eingeführt werden. Für den Fall, dass Verstorbene nicht identifiziert werden können, fordert die Resolution eine würdevolle Bestattung mit individuell gekennzeichneten Gräbern.

Viele der aufgeführten Maßnahmen werden von zivilen Hilfsorganisationen seit Jahrzehnten eingefordert. Jedoch setzen sich die Regierungen darüber hinweg oder verschärfen ihre auf Migrationsabwehr ausgerichtete Politik sogar. Hier könnte der Weltkongress gegensteuern, indem in den Mitgliedstaaten wenigstens der Ruf nach politischen Konsequenzen gegen das Verschwindenlassen von Migrant*innen unüberhörbar wird.

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