»A Real Pain« im Kino: »Findet das niemand verrückt?«

Der Film »A Real Pain« erzählt von einer Bildungsreise nach Polen auf den Spuren jüdischer Geschichte

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Cousins David (Jesse Eisenberg) und Benji (Kieran Culkin) auf den Spuren ihrer verstorbenen jüdischen Großmutter
Die Cousins David (Jesse Eisenberg) und Benji (Kieran Culkin) auf den Spuren ihrer verstorbenen jüdischen Großmutter

Die beiden Cousins David (Jesse Eisenberg) und Benji Kaplan (Kieran Culkin) sind fast gleich alt und in New York zusammen wie Brüder aufgewachsen. Aber die beiden Anfang 40-Jährigen, deren einwöchige Polenreise auf den Spuren ihrer verstorbenen jüdischen Großmutter in dem Film »A Real Pain« erzählt wird, könnten unterschiedlicher gar nicht sein. Benji ist ein sympathischer Chaot und ein sehr emotionaler Typ. Er verhält sich allen Menschen gegenüber offen, hält nie mit seiner Meinung hinterm Berg und erklärt etwa auf dem jüdischen Friedhof von Lublin dem geschockten Tour-Guide James (Will Sharpe) ganz unverblümt, dass ihn seine faktenbasierten Erklärungen während der einwöchigen Reise total nerven. David ist dagegen ein zurückhaltender, fast schüchterner und zutiefst bürgerlich-braver Familienvater aus Manhattan, der in der Werbebranche arbeitet, und das krasse Gegenstück zu seinem arbeitslosen Cousin. Benji nimmt außerdem ein dickes Paket Marihuana auf ihren Europa-Trip mit und zieht einen Joint nach dem anderen durch. Mit vier anderen amerikanischen Reisenden, die ebenfalls auf der Suche nach jüdischer Geschichte und einer Auseinandersetzung mit den Schrecken der Shoa sind, fahren sie von Warschau über Lublin nach Majdanek, wo sie das Konzentrationslager besichtigen.

Zum Schluss machen David und Benji noch einen Abstecher in ein kleines Dorf, um das Geburtshaus ihrer Großmutter zu besuchen. Die Auseinandersetzung amerikanischer Jüd*innen mit ihrer europäischen Geschichte und der Shoa ist im US-Kulturbetrieb schon seit Jahren immer wiederkehrendes Thema. Jonathan Safran Foers schon vor 22 Jahren erschienener und von der Kritik überschwänglich gefeierter Debüt-Roman »Alles ist erleuchtet«, der 2005 von Liev Schreiber verfilmt wurde, hat ebenfalls eine eher satirische Herangehensweise an dieses sehr ernste und keineswegs einfache Thema. In »A Real Pain« geht es vor allem um die Frage, wie sehr die siebenköpfige Reisegruppe eigentlich die Konfrontation mit dem Schmerz der historischen Erfahrung sucht und sich auch wirklich darauf einlassen will. Benji wird richtig wütend, als sie alle im Erste-Klasse-Abteil eines Zuges sitzen und Häppchen essend durch Polen fahren auf dem Weg in ein Konzentrationslager. »Findet das niemand verrückt?« Die Gruppe reagiert etwas zu verhalten darauf. Benji ist es dann auch, der nach dem Besuch in Majdanek auf der Rückfahrt im Bus nicht mehr aufhören kann zu weinen und die ganze Verzweiflung, den Schmerz spürt und an sich heranlässt, während alle anderen schweigen. Aber auch die anderen Reisegruppenteilnehmer sind dem Titel gebenden Schmerz auf die eine oder andere Art ausgeliefert.

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Die etwa 60-jährige wohlhabende Marcia (Jennifer Gray) verzweifelt an der oberflächlichen Beziehung zu ihrer Tochter, ist völlig vereinsamt und will mit der Reise ihre Großmutter, eine Überlebende der Shoa, ehren. Der aus Ruanda stammende Eloge (Kurt Egyiawan) überlebte 1994 den dortigen Genozid, konvertierte als Geflüchteter in den USA zum Judentum und will sich auf der Reise der Geschichte der Shoa annähern. Das Rentner-Ehepaar Diane (Liza Sadovy) und Mark (Daniel Oreskes) hält sich stets zurück und will mehr über die eigene Herkunft wissen. Und David sorgt sich um seinen überdrehten Cousin Benji, dem er sich immer mehr entfremdet hat und der einige Monate vor dieser Bildungsreise einen Suizidversuch unternommen hat. Die im Lauf der Zeit immer mehr unter die Haut gehende und persönlich werdende Fahrt durch Polen ist Teil des Erbes ihrer Großmutter, die den beiden Cousins für dieses Unternehmen extra Geld hinterlassen hat, um sie gemeinsam loszuschicken. Dementsprechend ist das konfliktbeladene und emotionale Verhältnis der beiden Millennials David und Benji der zentrale Handlungsstrang dieser leichtfüßig daherkommenden Satire, die es aber in sich hat, und auch, wenn manches bemüht wirkt, den Zuschauer dennoch auf eine seltsam verstörende Art in den Bann zieht.

Das hat auch mit der Musik Chopins zu tun, die in dem Film großartig zum Einsatz kommt. »A Real Pain« zeigt einen Europa- und Polen-Trip jenseits erwartbarer US-amerikanischer Klischees, obwohl die Gruppe vor allem Sehenswürdigkeiten aufsucht und dabei auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit solcher Bildungsexkursionen stellt, ohne platte Antworten zu geben. Die liefern ein Stück weit die großartig agierenden Schauspieler durch ihre schrulligen Charaktere. In den US-Feuilletons wurde der Film schon vergangenen Januar, als er im Wettbewerb des Sundance-Film-Festivals lief, über den Klee gelobt. Schauspieler Jesse Eisenberg, der auch das Drehbuch schrieb und Regie führte, wurde bereits dort mit dem Waldo Salt Screenwriting Award ausgezeichnet. »A Real Pain« wurde außerdem für vier Golden Globes nominiert, Anfang Januar erhielt Kieran Culkin dann die Trophäe für die beste männliche Nebenrolle, die ihm für seine geniale Darstellung definitiv zusteht. Kein Zweifel, dass »A Real Pain« auch ganz heißer Anwärter für die diesjährigen Oscars ist, die am 3. März vergeben werden.

»A Real Pain«, USA/Polen 2024. Regie und Buch: Jesse Eisenberg. Mit: Jesse Eisenberg, Kieran Culkin, Will Sharpe, Jennifer Grey, Kurt Egyiawan, Liza Sadovy und Daniel Oreskes. 90 Min. Jetzt im Kino.

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