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- »Feministische Epistemologien«
Identitätspolitik oder Revolution?
Ein neuer Reader über »Feministische Epistemologien« wirft die alte Frage wieder auf, was eigentlich der Standpunkt der Emanzipation ist
Karl Marx und seine männlichen Nachfolger sparten die geschlechtsspezifische Reproduktion des Arbeiters und der Arbeiter*innenklasse bekanntlich weitgehend aus. Erst mit der zweiten Welle der Frauenbewegung in den 60er und 70er Jahren rückten die theoretisch unterbelichteten und in aller Regel von Frauen verrichteten Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeiten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Perspektivenerweiterung hin zur weiblich konnotierten Reproduktion der Ware Arbeitskraft verdankte sich dem Aufstieg der Frauenforschung – und ihrem spezifischen Blick auf die Gesellschaft. Hierzu legt der Reader »Feministische Epistemologien«, herausgegeben von Katharina Hoppe und Frieder Vogelmann, nun erstmals eine Sammlung von Grundlagentexten in deutscher Sprache vor.
Der feministische Standpunkt
Die Aufsätze des Bandes sind – bis auf zwei Ausnahmen – Übersetzungen aus der US-amerikanischen Debatte von 1983 bis zur Gegenwart. Der gemeinsame Ausgangspunkt der unterschiedlichen Versionen feministischer Erkenntnistheorien, die im Reader versammelt sind, ist die Annahme, dass Politik und Wissenschaft unauflösbar miteinander verkoppelt sind. Damit ist weniger die banale Einsicht gemeint, dass Wissen Macht ist, also jedes positive oder empirische Wissen über die (soziale) Welt die Möglichkeit ihrer Beherrschung enthält. Vielmehr geht es darum, dass bereits die Formen und Praktiken der Wissensproduktion, also die Wege, auf denen man zur Erkenntnis gelangt, Ausdruck von Macht sind. Dementsprechend heißt es etwa bei der Soziologion Patricia Hill Collins: »Weiße Männer sind seit langem die vorherrschende Gruppe in der Soziologie und daher reflektiert die soziologische Weltanschauung auch die Anliegen und Interessen dieser Gruppe.« Wenn sich also, so Nancy Hartsock, hinter der Objektivität einer sich neutral gebenden Wissenschaft in Wahrheit nur die »Einseitigkeit der maskulinistischen Sichtweise« einer »phallozentrischen Gesellschaft« verbirgt, dann ermöglicht »die weibliche Erfahrung und die durch die weibliche Tätigkeit hervorgebrachte Weltanschauung« ein alternatives, wenn nicht sogar besseres Verständnis sozialer Beziehungen.
Die Krux der Auseinandersetzung liegt in der Frage, warum ein feministischer Standpunkt »weniger parteiische und verzerrte Darstellungen von Natur und sozialem Leben« hervorbringen soll als »das konventionelle androzentrische Denken«, wie die Philosophin Sandra Harding im Band vermutet. Hier lautet die Antwort feministischer Epistemologie: Weil der Feminismus kein Interesse an einer ideologischen Interpretation der Welt hat. Während dem männlich konnotierten Denken aufgrund seiner spezifisch androzentrisch Erkenntnisinteressen das Ziel der Aufrechterhaltung männlicher Herrschaft unhintergehbar eingeschrieben sei, wären die Unterdrückten an einer nicht-ideologischen Präsentation der sozialen Beziehungen interessiert. Denn erst die objektive Erkenntnis der Gesellschaft gebe den Unterdrückten die Mittel an die Hand sie in ihrem Sinne zu verändern. In der Formulierung Elizabeth Andersons: »Nicht Wertneutralität, sondern Gerechtigkeit bietet das richtige Modell für Objektivität in der Wissenschaft.«
Werturteilsfreie Wissenschaft
Inwiefern nicht-wissenschaftliche (sogenannte nicht-epistemische oder nicht-kognitive) Werte die Grundlage eines spezifisch feministischen Erkenntnisinteresses oder sogar einer besonderen feministischen Wissenschaft begründen, war und ist Gegenstand nicht nur feministischer Erkenntnistheorien. Strittig ist vor allem die Frage, ob der Feminismus »nur« neue Forschungsgegenstände (Stichwort Care-Arbeit) entdeckt oder aber darüber hinaus ein alternatives Forschungsprogramm entwickelt hat, das auf einem spezifisch weiblichen Wissen beruht und sich von den männlichen Praktiken der Wissensproduktion unterscheidet.
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Der von den Herausgebern in der Einleitung erhobene Anspruch, »die vielstimmige Debatte um feministische Epistemologien nachzuzeichen«, wird vor dem Hintergrund der großen Disparität unterschiedlicher Positionen zum Thema indes nicht ganz eingeholt. Der Reader bietet zwar durchaus einen fundierten Ein- und Überblick in beziehungsweise über »das breite Spektrum feministischer Epistemologien und ihrer Entwicklungspfade«. Aber er unterschlägt mitunter radikale, gewissermaßen externe Varianten der Kritik, die über die interne Selbstkritik feministischer Epistemologien hinausgehen. So kommen mit Bat-Ami Bar On und Uma Narayan freilich auch kritische Stimmen zu Wort. Zentrale Einwände gegenüber dem Projekt einer spezifisch feministischen Erkenntnistheorie wie sie etwa Susan Hekman, Susan Haack, Noretta Koertge, Janet Radcliffe Richards oder Cassandra L. Pinnick erhoben haben, fehlen hingegen oder tauchen allenfalls in Form der Rekonstruktion ihrer Gegnerinnen oder in Fußnoten auf.
Auch ist es fraglich, ob in der Wissenschaftstheorie, wie in der Einleitung behauptet, die »Ablehnung wertfreier Wissenschaft mittlerweile zum Gemeinplatz geworden« sei. Tatsächlich bestreiten aktuelle Varianten des Wertfreiheitsideals der Wissenschaften keineswegs den Einfluss von Werten auf die Wissenschaften (etwa im Entdeckungs- und Anwendungskontext wissenschaftlicher Aussagen). Diskutiert wird lediglich, ob außer-wissenschaftliche, politische oder soziale Werte im Rechtfertigungs- oder Begründungszusammenhang, also bei der rationalen Beurteilung von Geltungsansprüchen wissenschaftlicher Hypothesen, eine Rolle spielen (sollten) oder nicht. Und die Beantwortung dieser Frage ist keineswegs eindeutig zugunsten derer entschieden, die – wie die feministische Epistemologie – die Trennung von Politik und Wissenschaft aufheben wollen.
Identitäre Politik
Feministische Epistemologie ist indes weder allein von (wissenschafts-)historischem, noch ausschließlich von erkenntnistheoretischem Interesse, sondern berührt zugleich eine aktuelle Debatte. Denn Standpunkttheorien und -epistemologien bilden das erkenntnistheoretische Fundament der Identitätspolitik, um die momentan gestritten wird. So beziehen sich etwa aktuelle Vertreter wie Karsten Schubert und Daniel Loick derzeit auf Argumente aus dem Arsenal der feministischen Epistemologie, um einen politischen Aktivismus mit wissenschaftlicher Autorität auszustatten.
Wenn es um Diskriminierung gehe, sollte ihnen zufolge die Perspektive der Betroffenen nicht nur berücksichtigt, sondern gegenüber der Perspektive der sogenannten Mehrheitsgesellschaft bevorzugt werden. Weil die Perspektive und das Selbstverständnis der (weißen, männlichen, westlichen, heteronormativen) Mehrheitsgesellschaft, so etwa Karsten Schubert in seinem Buch »Lob der Identitätspolitik«, »auf denjenigen Grenzen des Denk- und Sagbaren beruht, die eine Grundlage der Diskriminierungen sind«, sei es der Mehrheitsgesellschaft prinzipiell unmöglich die Mechanismen von Ausgrenzung und Unterdrückung zu erkennen, zu kritisieren und abzuschaffen.
Eine gesellschaftliche Stellung hat man, ein kritischer Standpunkt muss aktiv erarbeitet werden.
Wenn also der Ausschluss sozialer Minderheiten konstitutiv für Identität(en) der Mehrheitsgesellschaft und die Reproduktion der etablierten sozialen Ordnung sei, so die Idee, unterliege die Mehrheitsgesellschaft epistemischen Blockaden und systematischen Verzerrungen, wenn es um die Fragen von Diskriminierung und Unterdrückung geht. Die von Diskriminierung und Marginalisierung Betroffenen hätten hingegen Zugriff auf eben jenes Wissen, das den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft verschlossen bleiben muss. Hieraus folge, so Schubert, »dass ein identitätspolitischer Standpunkt gegenüber der mehrheitsgesellschaftlichen Perspektive privilegiert werden sollte, weil er in der Lage ist, Diskriminierungen objektiver zu analysieren«. Die Mitglieder marginalisierter Gruppen, so auch Daniel Loick in seinem aktuellen Buch »Die Überlegenheit der Unterlegenen«, verfügten über »Einsichten in die Operationsweise der Verdrängungstechniken dominanter Gruppen« und hätten daher »ein besseres Verständnis vom Umfang, der Wirkungsweise und den Effekten der Herrschaftsverhältnisse, denen sie ausgesetzt sind, das heißt ein besseres Verständnis der Gesellschaft, in der wir leben.«
Vom Proletariat zu den Unterdrückten
Die Behauptung, dass die Unterdrückten und Ausgebeuteten aufgrund ihrer untergeordneten Stellung im Produktionsprozess und ihrer daraus entspringenden emanzipatorischen Erkenntnisinteressen über exklusive Einsichten in die Mechanismen ihrer Beherrschung und Ausbeutung verfügen, geht auf das 1923 von Georg Lukács in »Geschichte und Klassenbewusstsein« postulierte »Erkenntnisprivileg des Proletariats« zurück – und war schon damals falsch. Lukács unterschied zwar zwischen dem empirisch feststellbaren, verdinglichten oder spontanen Bewusstsein der Arbeiterklasse einerseits, das keineswegs die Verhältnisse durchschaut, sondern vielmehr trade-unionistische Einstellungen vertritt und der Sozialdemokratie zugeneigt ist. Andererseits nahm er ein »zugerechnetes Klassenbewusstsein« an, das die Arbeiterklasse aufgrund ihrer objektiven Stellung im Produktionsprozess eigentlich haben müsste.
Dieselbe Spannung zwischen Sein und Sollen – die Lukács durch den Führungsanspruch der kommunistischen Partei auflöste – durchzieht die feministische Erkenntnistheorie. Weil sich aus der »sozialen Situiertheit« der Marginalisierten keineswegs automatisch ein kritisches, reflexives Bewusstsein der eigenen Situation ergibt, bedarf es irgendeiner Instanz oder eines speziellen Verfahrens, um die Subalternen an ihren revolutionären Auftrag zu erinnern. Eine gesellschaftliche Stellung hat man, ein kritischer Standpunkt muss aktiv erarbeitet werden.
»Marginalisierte Subjekte können durch politische Anstrengungen einen epistemischen Standpunkt erringen, der dem Standpunkt der Herrschenden prinzipiell überlegen ist, weil er nicht gleichermaßen mit dem Herrschaftsinteresse verstrickt ist, die Wirklichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse zu verschleiern«, so die Herausgeber*innen des Buches. Wenn nun aber der Erkenntnisvorsprung der Beherrschten von den »politischen Anstrengungen« abhängt, wozu braucht es dann überhaupt noch den Rückgriff auf die subalterne soziale Situation und ihre vermeintlichen epistemischen Vorteile? Denn wenn, wie die feministische Epistemologie ausdrücklich betont, das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein nicht determiniert, kann man sich dann nicht das ganze Projekt einer besonderen, feministischen Erkenntnistheorie sparen und gleich zur Analyse und Kritik der politischen Programme und Ideen übergehen, die aus bloßen Subjekten (an sich) politische Akteure (für sich) machen? Es ist dieses seit Lukács mitgeschleppte Problem, wie aus der spezifischen Erfahrung (der Arbeiter, der Frauen, der Subalternen) eine überlegene Kenntnis der gesellschaftlichen Totalität entstehen soll, für das auch die feministische Erkenntnistheorie keine überzeugende Lösung anzubieten vermag.
Katharina Hoppe und Frieder Vogelmann (Hrsg.): Feministische Epistemologien. Ein Reader. Suhrkamp 2024, 576 S., br., 29 €.
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