Kirche als Staat im Staate

Die Macht der Kirche wird trotz Missbrauchs- und Ausbeutungsskandalen zu wenig angetastet

Die Drohung mit Gottes Strafe und die Erfahrung, dass ihnen niemand zuhören will, ließ die Opfer vielfach Jahrzehnte schweigen.
Die Drohung mit Gottes Strafe und die Erfahrung, dass ihnen niemand zuhören will, ließ die Opfer vielfach Jahrzehnte schweigen.

Seit gut zwei Jahrzehnten wird der sogenannte Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche, aber auch in der evangelischen aufgearbeitet. Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und von gerichtlichen Auseinandersetzungen stehen Sexualverbrechen, die Geistliche und andere Kirchenmitarbeiter an Kindern und Jugendlichen begangen haben. Eben erst wurde eine Studie zu bisher geleisteten von Diözesen und Orden Entschädigungszahlungen und zur Aufarbeitung der Fälle in den USA seit 2003 veröffentlicht.

Zu reden ist aber nicht nur von dieser Form der Gewalt, sondern von einem Gesamtsystem, in dem physische wie psychische Misshandlungen, faktische Versklavung von Kindern und Jugendlichen, Menschenhandel weltweit lange an der Tagesordnung waren.

Zu reden ist von einem System, in dem Profit mit der unbezahlten Arbeit Jugendlicher und dem Verkauf von Kindern gemacht wurde, die ihren jungen Müttern oder in den USA und Kanada ihren indigenen Familien entrissen wurden. Von einem System, in dem Kinder brutal geschlagen, in dunkle Räume gesperrt und durch Demütigungsrituale für kleinste Verfehlungen bestraft wurden.

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Noch immer kommen neue Skandale ans Licht. Dass dies oft Jahrzehnte später geschieht, hat wesentlich mit der Strategie von Tätern und der sie deckenden Institution Kirche zu tun, den Opfern einzutrichtern, sie seien nichts wert und selbst schuld an allem, was ihnen geschieht.

Das Kernproblem bei der Aufarbeitung der Verbrechen an den schutzbedürftigsten und wehrlosesten Mitgliedern der Gesellschaft ist weltweit, dass die Kirchen im allgemeinen und die katholische im Besonderen weiter so etwas wie Staat im Staate sind. Und so führt bei der Ermittlung von Tätern und Opfern nach wie vor vielfach die Institution Regie, unter deren Dach die Verbrechen geschahen und geduldet wurden. Matthias Katsch, einer der ehemaligen Schüler des Berliner Canisius-Kollegs, die vor 15 Jahren erstmals über das von ihnen Erlittene sprachen, fasst die Situation in Deutschland treffend zusammen: »Man hat uns mit der Täterorganisation weitgehend allein gelassen.«

In Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern stellen sich Staat und Behörden bis heute völlig unzureichend ihrer Verantwortung, die Straftaten aufzuarbeiten und wenn möglich noch zu ahnden. Bundesregierung und Bundestag haben bislang die von Betroffenenverbänden seit Jahren erhobenen Forderungen, Kirchen gesetzlich zu angemessenen Entschädigungen zu zwingen und für die Beantragung unabhängige Instanzen zu schaffen, ignoriert. Dabei tragen Bund und Länder maßgebliche Mitverantwortung. Sie waren es, die Kinder der Institution überantworteten und diese vielfach nicht überwachten.

Dass es anders geht, beweist das erzkatholische Irland, wo der Staat schon 2002 eine gesetzliche Regelung schuf. Anspruch auf Entschädigung hatte nicht nur, wer in Heimen katholischer Orden Sexualverbrechen erlitten hatte. Berücksichtigt wurden auch alle anderen Formen von physischer und psychischer Gewalt sowie schwerwiegende Vernachlässigung. Nach Prüfung des Antrags und gegebenenfalls einer Anhörung erhielten die Betroffenen eine Entschädigung von bis zu 300 000 Euro, im Schnitt waren es 62 000 Euro. Mehr als 90 Prozent der über 16 000 Anträge wurden positiv beschieden. Die zähen – und andauernden – Verhandlungen mit der Kirche um ihren Anteil an der Entschädigung übernahm der Staat. Zum Vergleich: In Deutschland haben die katholischen Institutionen bis auf Einzelfälle lediglich freiwillige »Anerkennungsleistungen« zwischen 5000 und 12 000 Euro ausgezahlt.

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