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»Wir haben es satt!«-Demo: Agrarwende, aber sozial
Am Samstag demonstrierten in Berlin mehrere Tausend Menschen für eine gerechtere Agrarpolitik
Einmal im Jahr, Mitte Januar, versammeln sich auf dem Platz der Republik in Berlin merkwürdige Tiergestalten. So auch am Samstag. Nicht zu übersehen: das pinke Hausschwein, so groß wie zwei Menschen. Es überragte sogar das schwarz-weiß gefleckte Rind daneben. Zugegeben, es handelte sich nicht um echte Tiere, sondern aufblasbare Attrappen. Und hinter den übergroßen Hühnern und Bienen steckten ganz gewöhnliche Exemplare der Spezies Homo Sapiens.
Dem Bündnis »Wir haben es satt!« zufolge waren es 9000 Menschen, die sich hier, zwischen Kanzleramt und Reichstagsgebäude, eingefunden haben. Die Polizei sprach dem RBB zufolge von 3500 Teilnehmenden. Bereits zum 15. Mal hatten etwa 60 Organisationen dazu aufgerufen, anlässlich der Landwirtschaftsmesse »Grüne Woche« für eine Agrarwende zu protestieren. Der Zusammenschluss setzt sich ein für mehr Tierwohl und Umweltschutz, aber auch für bessere Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft. »Ich kann mir meine eigenen Lebensmittel im Bioladen nicht leisten«, klagte etwa Junglandwirtin Antje Hollander, die Mitglied bei der jungen Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (jAbL) ist.
Besonders an der diesjährigen Auflage des Protests: Erstmals fand die »Wir haben es satt!«-Demo mitten im Bundestagswahlkampf statt. Bevor sich die Versammlung in Bewegung setzte, bildeten die Teilnehmenden deshalb ein riesiges Wahlkreuz aus Menschen, darunter ein Banner mit dem Spruch »Mutige Agrarpolitik wählen!«. Im Hintergrund: das Reichstagsgebäude. Welche Partei für eine solche Politik eintritt, ließ das Bündnis jedoch offen.
Christoph Bautz aus dem Vorstand der Kampagnen-Organisation Campact verriet lediglich, welche Partei man nicht wählen solle – und warnte vor einem Unions-geführten Landwirtschaftsministerium. Denn dann könnte Günther Felßner (CSU) Landwirtschaftsminister werden, der derzeit Präsident des Bayerischen Bauernverbandes ist. Bautz nannte ihn den »schlimmsten populistischen Lobbyisten« den es in der Bundesrepublik derzeit gebe. Unter Felßner würden sich die Tierzahlen und der Pestizideinsatz nicht verringern und Subventionen würden weiterhin »den Agrarfabriken« zugutekommen.
»Ich kann mir meine eigenen Lebensmittel im Bioladen nicht leisten.«
Antje Hollander Landwirtin
Genau das Gegenteil von dem also, was Bautz von der kommenden Bundesregierung verlangt: Der Tierbestand müsse halbiert werden und auch der Einsatz von Pestiziden soll massiv zurückgefahren werden; gleichzeitig brauche es neue Gesetze, um das Höfesterben zu beenden und um die Klimaresilienz der Landwirtschaft zu fördern.
Ob ihm mit dem Wahlkampf beschäftigte Politiker*innen zuhörten? Während die Agrarpolitik im vergangenen Winter die Nachrichten beherrschte, spielt sie im aktuellen Diskurs kaum eine Rolle. Dazu sagte Nicola Puell, verantwortlich für Pressearbeit bei »Wir haben es satt!« dem »nd«: »Agrarthemen betreffen unsere Lebensgrundlagen. Deswegen sind wir nicht damit einverstanden, dass Parteien derzeit so wenig Fokus darauf legen.«
Es gäbe einen weiteren Grund für die Menschen, die sich auf einen Job im Bundestag bewerben, sich genauer mit der Agrar-Industrie zu beschäftigen: Denn während die Lebensmittelpreise seit 2021 um etwa ein Drittel stiegen, kam von dieser Preiserhöhung bei den Landwirt*innen kaum etwas an, schreibt das Bündnis in einer Presseerklärung. Angesichts der gestiegenen Kosten für Verbraucher*innen sei eine Agrarwende um so dringlicher – eine Agrarwende, die vor allen Dingen bezahlbar sein soll.
Elke Ronneberger, die Bundesvorständin Sozialpolitik in der Diakonie, kritisierte daher die 2025 ausgebliebene Erhöhung des Bürgergelds. Mit einem vorgesehenen Betrag von täglich 6,42 € für die Ernährung eines alleinstehenden Erwachsenden sei »eine selbstbestimmte gesunde Ernährung unmöglich«, so Ronneberger. »Ein menschenwürdiges Existenzminimum kann in Zukunft nur gesichert werden, wenn es zu einem sozial-ökologischen Existenzminimum weiterentwickelt wird«. Ökologische Mindeststandards müssten dabei eine genauso wichtige Rolle spielen wie die Gesundheit.
Ökologisches Essen für alle und gleichzeitig mehr Tierwohl und Geld für Landwirt*innen – wie geht das zusammen? »Dass Menschen immer weniger Geld zum Leben haben, darf man nicht dagegen ausspielen, dass Bäuer*innen faire Preise für ihre Lebensmittel erhalten sollen und wir unsere Lebensgrundlagen schützen müssen«, sagt Puell gegenüber »nd«. »Wir haben es satt!« habe deshalb mit Erwerbslosen- und Sozialverbänden sowie Gewerkschaften einen 6-Punkte-Plan erarbeitet. Darunter findet sich etwa die Forderung, die Mehrwertsteuer auf klimagerechte Lebensmittel zu senken und umweltschädliche Subventionen zu streichen; außerdem sollten dem Plan zufolge Ackerflächen möglichst für menschliche Nahrung genutzt werden statt für Futter- und Biosprit-Anbau.
Als sich der Demonstrationszug in Bewegung setzt, fehlen an dessen Spitze die typischen Trecker. Eine Vorsichtsmaßnahme wegen der Maul- und Klauenseuche, vermeldete das Bündnis bereits einige Tage zuvor. Als Ersatz muss am Samstag ein Banner herhalten, mit einer Bildcollage von Traktoren auf vergangenen Protesten. Ansonsten gab die »Wir haben es satt!«-Demo ihr gewohnt buntes und fröhliches Bild von sich, auch wenn die Themen, um die es geht, das so überhaupt nicht sind: Ein Riesenwurm glitt über den Köpfen der Teilnehmenden entlang (einer zum Aufblasen versteht sich); zwei menschliche Bienen warteten mit einer Darbietung des charakteristischen Bienentanzes auf, begleitet von Percussion. Überhaupt: Fast kein Streckenabschnitt verging ohne eine Trommelgruppe am Straßenrand. Ganz im Sinne der Nachhaltigkeit musste auch schon mal eine Mülltonne als Schlagzeug herhalten. Und immer wieder erblickte man in der Menge einen Erwachsenen, der sich auf einem Spielzeugtraktor mitziehen ließ. So ganz musste »Wir haben es satt!« also selbst in diesem Jahr nicht auf die Treckerbegleitung verzichten.
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