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Sozialismus als Exklusion
Arbeiterzionismus statt Verfolgung in der Diaspora: Der Gewerkschaftsbund in Israel setzte auf die »Hebräisierung der Arbeit«
Die ersten jüdischen Sozialist*innen betraten ab 1905 das »Heilige Land« und trafen auf eine Gegend voller Widersprüche, die ihrer Utopie einer sozialistischen Heimstätte zunächst im Wege standen. Ihre Vorgänger, die sich ab 1881 im sogenannten Moschavot ansiedelten, hatten sich in ihrer Wirtschaftsweise nämlich nicht am Sozialismus orientiert, sondern am klassischen europäischen Kolonialismus. Diese ersten praktischen Zionisten waren Bauern, die den Vorstellungen ihrer Geldgeber aus der jüdischen Bourgeoisie Zentraleuropas nachkamen und auf ihren Zitrusfarmen die lokale Bevölkerung ausbeuteten. Die oftmals westeuropäischen Finanziers dieser Siedlungsbewegung fürchteten die in immer größerer Zahl aus dem russischen Kaiserreich einwandernden »Ostjuden« und wollten sie umleiten: Einerseits sahen sie eine neue Konjunktur des Antisemitismus kommen, andererseits drohten die zahlreichen jüdischen Revolutionär*innen Unruhe in die Länder des Westens zu bringen.
Diese proletarischen Jüdinnen und Juden, die vor der konterrevolutionären und antisemitischen Verfolgung des Zarenreiches nach der Russischen Revolution von 1905 flohen, standen im »Heiligen Land« nun vor einem klassischen Kolonialismus und fanden keinen Zutritt. Die jüdischen Siedler, die dort nach kapitalistischer Rationalität wirtschafteten, beuteten auf ihren Farmen weiterhin arabische Arbeiter*innen aus, nicht nur da deren Arbeitskraft und Reproduktion billiger war, sondern auch weil ihre jüdischen Konkurrenten kaum landwirtschaftliche Kenntnisse, dafür aber umso mehr Klassenbewusstsein mitbrachten.
Diese erneute Exklusion konnte jedoch aus zionistischer Perspektive nicht geduldet werden. Schließlich war es eines der zentralen Ziele des Zionismus, den Ausschluss und die Diskriminierung der Diaspora zu überwinden, indem »die Juden Teil derjenigen Sektoren des ökonomischen Lebens werden, aus denen die soziale Fabrik des ganzen Landes gewebt ist«, wie es der Theoretiker des Arbeiterzionismus Ber Borochov formulierte. Dies führte bald zum Kampf der sozialistischen Zionist*innen um die »Eroberung der Arbeit« in Palästina – der vor allem ein Kampf gegen die arabische Arbeit war, da das neue Land über eine bereits bestehende Gesellschaft gewebt wurde. Wie für den bürgerlichen Zionismus war die arabische Bevölkerung leider auch für den Arbeiterzionismus kaum mehr als nur temporäre Bewohner*innen eines ihnen versprochenen Landes, die sich, wie es Borochov formulierte, »ökonomisch und kulturell bald assimilieren werden«. Der Sozialist und erste israelische Ministerpräsident David Ben Gurion behauptete mit kolonialrassistischer Implikation, die Araber*innen vor Ort seien ohnehin nicht fähig, die Möglichkeiten dieser »völligen Einöde« auszunutzen, und würden deshalb bald erkennen, »dass es sich nicht lohnt, ja, dass es unmöglich ist, sich uns zu widersetzen«.
Politik der Segregation
Das erste Mittel dieser »Hebräisierung der Arbeit« waren Kampagnen, die darauf abzielten, arabische Waren zu boykottieren und Druck auf jüdische Kapitalisten auszuüben, ihre arabischen Arbeiter zu entlassen und durch jüdische zu ersetzen. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm das Projekt einer »jüdischen Ökonomie« in Palästina mit der Gründung des Gewerkschaftsdachverbands Histadrut im Jahr 1920 schließlich schärfere Konturen an. Die Histadrut nahm eine zentrale Rolle in der sozialistischen Kolonisierung des Landes ein, da sie die Funktion hatte, eine eigene Industrie aufzubauen, um eine rein hebräische Arbeiter*innenklasse in Palästina zu erschaffen.
Die Aktivitäten dieses Verbandes gingen deshalb weit über die bloße Gewerkschaftsarbeit hinaus: Deren Mitglieder hatten nicht nur Zugang zu Wohnungen und medizinischer Versorgung, sondern vor allem zu zahlreichen gut bezahlten Arbeitsplätzen in einem Produktionssektor, der mit Geldern aus Europa und den USA aufgebaut wurde. Dieser Staat vor dem Staate, der bald zu einem der größten Arbeitgeber des Landes aufsteigen sollte, schloss jedoch arabische Arbeiter von der Mitgliedschaft aus. Die Politik der Segregation sollte bald für Konflikte sorgen, schließlich verriet sie nicht nur den Internationalismus, sondern stand auch den Interessen des arabischen Proletariats diametral entgegen.
Eine scharfe Kritik am Arbeiterzionismus kam von der Israelischen Kommunistischen Partei.
Kritik an dieser Unterordnung des Sozialismus unter den Zionismus kam von zwei Seiten: von der Linken und von einer Gewerkschaftsbasis, die in ihren Arbeitskämpfen oft mit dem Zionismus kollidierte. Auf dem Gründungskongress der Histadrut war es vor allem die stark von der bolschewistischen Revolution beeinflusste Sozialistische Arbeiterpartei, die der ökonomischen Segregation widersprach. Die revolutionären Zionist*innen forderten »eine parteiunabhängige Gewerkschaft aller Arbeiter von Eretz Israel, unabhängig ihrer Nationalität oder politischer Orientierung«, die zusammen mit einer »Siedlerorganisation aller jüdischen Arbeiter« einen »internationalen, das heißt jüdisch-arabischen, Arbeitersowjet bilden« sollten. Dieser Vorschlag fand bei der Mehrheit der Arbeiterzionist*innen jedoch nur wenig Unterstützung, und die Verfassung der Histadrut erwähnte die arabische Arbeiter*innenschaft mit keinem Wort. Eine wesentlich schärfere Kritik am Arbeiterzionismus kam von der Kommunistischen Partei, die man bereits Anfang der 1920er Jahre wegen »subversiver Aktivitäten« aus der Histadrut ausschloss. Sie warf dem Zionismus immer wieder Kolonialismus und einen bourgeoisen Charakter vor und zielte in ihrer Praxis auf die gemeinsame Organisierung von arabischen und jüdischen Arbeiter*innen.
Ein lebendiger und mit dem Zionismus kollidierender Internationalismus entwickelte sich insbesondere unter den Eisenbahnarbeitern, den der arabische Kommunist Bulus Farah in seinem Buch über die Branche euphorisch beschreibt: »Am Eisenbahnerarbeitsplatz konnte man alle Nationalitäten finden, aber arabische und jüdische Arbeiter waren eindeutig in der Mehrheit. Trotz der Unterschiede der Sprache, der Gewohnheiten, der Traditionen und dem Niveau der Zivilisiertheit gab es zwischen ihnen gegenseitiges Verständnis.« Diese Klassensolidarität sorgte, vor allem in der ersten Hälfte der 1920er Jahre, für Forderungen nach gemeinsamen Kampforganisationen und einem Ende der zionistischen Orientierung des jüdischen Sozialismus in Palästina. Auf einem Treffen der zionistischen Gewerkschaft für Eisenbahn, Post und Telegraph im März 1924 forderte eine Gruppe arabischer Vertreter Gleichberechtigung: »Sie haben auf der Mitgliedskarte der Gewerkschaft die Worte ›Föderation der jüdischen Arbeiter‹ gelesen und können nicht verstehen, welchem Zweck das dienen soll. Ich bitte die Genossen das Wort ›jüdisch‹ zu streichen und ich bin sicher, dass dies die arabischen und jüdischen Arbeiter zusammenbringen wird.«
Diese Forderung erfüllte der Arbeiterzionismus jedoch nie. Denn die globale Konterrevolution machte auch vor dem Heiligen Land keinen Halt und schon bald war das zarte Pflänzchen des Internationalismus in Palästina zerrupft. Die Kampagnen gegen die arabische Arbeiter*innenschaft wurden in immer schärferem Ton geführt, und die Histadrut, die sich finanziell schließlich von bürgerlichen Kräften abhängig machte, dominierte bald die Ökonomie des Mandatsgebiets und band immer mehr jüdische Arbeiter*innen an sich. Dies befeuerte zugleich den immer stärker werdenden arabischen Nationalismus, der im Jahr 1925 eine rein arabische Gewerkschaft gründete und ebenfalls immer aggressiver auftrat.
Konsolidierung der Verhältnisse
Mitte der 30er Jahre stand die arabische Ökonomie, nunmehr im Völkerbundsmandat Palästina, schließlich kurz vor dem vollständigen Kollaps. Im Jahr 1935 bezogen Unternehmen im Besitz von Juden und Jüdinnen knapp 90 Prozent der durch die britischen Mandatsbehörden vergebenen Konzessionen, und der Durchschnittslohn eines jüdischen Arbeiters war 145 Prozent höher als der seines arabischen Gegenübers. Die palästinensischen Bauern standen ab den 30er Jahren zudem, so beschreibt es der Historiker Nathan Weinstock, vor zwei fundamentalen Problemen: Zum einen verkauften viele, zumeist im Ausland lebende, arabische Großgrundbesitzer das Land, das die arabischen Fellachen oft seit Generationen gepachtet hatten, an zionistische Organisationen, die die arabischen Bauern dann durch jüdische ersetzten. Zum anderen war den landlosen Bauern oftmals auch der proletarische Weg in die Städte versperrt, da der Arbeiterzionismus bereits seit über einer Dekade seine Strategie der »hebräischen Arbeit« verfolgte.
In einem Bericht an die Peel Royal Commission warnte George Mansour, der linke Generalsekretär der Palestine Arab Workers Society in Jaffa, vor der enormen Sprengkraft der Situation und mahnte an, dass »die Regierung den Arbeitern bald entweder Brot oder Kugeln geben muss«. Das Brot blieb aus und im Jahr 1936 erhob sich der große arabische Aufstand, der durch die Kolonialregierung mit brutalster Härte niedergeschlagen wurde, die bis zum Jahr 1936 rund zehn Prozent der waffenfähigen Bevölkerung der Palästinenser tötete. Da sich auf arabischer Seite unter den gegebenen Bedingungen weder eine dynamische Bourgeoisie noch ein kämpferisches Proletariat herausbildete, konnten sich reaktionäre Persönlichkeiten wie der Mufti von Jerusalem teilweise an die Spitze der Revolte stellen. Diese Niederlage des Sozialismus stellte die Weichen für die palästinensische Katastrophe und prägt den Konflikt um Israel und Palästina bis heute.
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