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- Kulturhauptstadtjahr 2025
Chemnitzer Künstler: »Kein Grund für Minderwertigkeitskomplexe«
Kulturhauptstadtjahr in sächsischer Stadt hat begonnen. Kritik an mangelnder Befassung mit Rechtsextremismus
Bis zur Abfahrt hat Gabi Reinhardt noch Zeit. Am 3. September wird sich am Busbahnhof Chemnitz mit seinem futuristisch-schwebenden Betondach zum ersten Mal ein Ikarus-Bus in Bewegung setzen, »an einer glitzernden Haltestelle«, sagt die Regisseurin. Sie bereitet eine Theaterinszenierung vor, die Teil des Chemnitzer Programms als Kulturhauptstadt Europas ist und in der Frauen über ihre Arbeit berichten, vor allem die »ungesehene Arbeit« im Haushalt, mit Kindern, in Beziehungen. Die Aufführung findet während der Fahrt im Bus und an fünf Stationen in der Stadt statt. Laiendarstellerinnen werden spielen, tanzen, singen oder Puppen bewegen. Titel des Stücks: »Der Bus ist abgefahren«.
Für Chemnitz ist der Bus schon an diesem Samstag losgefahren. Mit einem umfangreichen Kulturprogramm und einem Festakt im Beisein des Bundespräsidenten wurde das Kulturhauptstadtjahr am 18. Januar offiziell eröffnet. Für zwölf Monate wird die Viertelmillionenstadt in Südwestsachsen gewissermaßen die kulturelle Zentralhaltestelle Europas sein, gemeinsam mit dem slowenischen Nova Gorica und dem benachbarten italienischen Gorizia. Chemnitz hatte 2020 im nationalen Auswahlverfahren den Zuschlag als vierte deutsche Titelträgerin seit »Erfindung« der Kulturhauptstadt vor 40 Jahren erhalten. Eine Jury gab ihr den Vorzug vor Magdeburg, Nürnberg, Hannover und Hildesheim. Die Entscheidung sorgte bereits für Erstaunen, galt sie doch einer Stadt, die in Comedy-Sendungen als Inbegriff trostloser Provinzialität verspottet wurde, in der kein ICE hielt und die seit 2018 schwer an der Bürde rechter Ausschreitungen trägt. Kulturstadt? Aber doch nicht hier!
Gabi Reinhardt wusste es schon damals besser. In einem kleinen Film auf ihrer Homepage interviewte sich die Theatermacherin während der Corona-Zeit augenzwinkernd selbst, mit Fragen wie: »Kind oder Karriere? Fest oder frei? Berlin oder Chemnitz?« Manchmal kommen die Antworten zögerlich, bei letzterer gibt es kein Nachdenken: Chemnitz! Nach dem Studium der Theaterpädagogik in Berlin kehrte sie umgehend zurück in die Stadt, die noch Karl-Marx-Stadt hieß, als sie in den 80er Jahren dort geboren wurde.
Ein gewichtiges Argument für eine freie Künstlerin ist: Es gibt Platz und günstige Mieten. Ein Studio wie ihres, »mit Blick über die Innenstadt und sogar mit Lager«, wäre in vielen anderen Städten unerschwinglich. Zudem ist die Theatermacherin in Chemnitz Teil eines quicklebendigen kulturellen Biotops. In der Stadt gibt es nicht nur eine international renommierte Kunstsammlung, das Archäologiemuseum Smac, ein Opern- und ein Kulturkaufhaus, sondern auch viel Subkultur: Theatergruppen, Ausstellungsprojekte, Klubs und Festivals wie das »Kosmos«. Nicht zuletzt fänden Künstler ein »dankbares Publikum«, sagt Reinhardt. Als sie 2013 in einem Hochhaus in der Innenstadt mit dessen Bewohnern das »Balkonballett« inszenierte, kamen 2000 Zuschauer. »Hier kann man etwas bewirken«, sagt sie und fügt an, Chemnitz müsse »keine Minderwertigkeitskomplexe haben gegenüber Dresden oder Leipzig«.
In der Chemnitzer Szene weiß man das, jenseits der Stadtgrenzen hat es sich unter Kunstfreunden bisher kaum herumgesprochen. Als Ende Oktober der nationalen und internationalen Presse das Programm für das Festjahr vorgestellt wurde, gestanden viele der angereisten Kulturjournalisten, sie seien zum ersten Mal in der Stadt. Die sächsische Kulturministerin Barbara Klepsch (CDU) behauptete bei der Präsentation zwar, Sachsen sei das beliebteste deutsche Bundesland für Kulturtourismus. Sie räumte aber ein, die Gäste zögen bisher Dresden, Leipzig oder Görlitz vor. In Chemnitz ist man Besucherströme nicht gewöhnt. Als Gabi Reinhardt die Erwartung äußert, dass »hier bald die Touristen kommen«, muss sie selbst noch ungläubig lachen.
Dass sie freilich kommen, darf als ausgemacht gelten. Die Organisatoren rechnen mit zwei Millionen Besuchern; Erfahrungen vergleichbarer Kulturhauptstädte lassen das realistisch erscheinen. Reinhardt berichtet schon jetzt von ersten Ticketanfragen für ihre erst im Herbst auf dem Programm stehende Inszenierung. Sie hört auch davon, dass die Kulturhauptstadt als Ort etwa für Tagungen oder Arbeitstreffen ausgewählt werde. »Das ist für uns eine ganz neue Erfahrung«, sagt sie.
In Chemnitz schaut man dem Ansturm erwartungsvoll entgegen. Sabine Kühnrich sagt: »Ich freue mich auf viele Begegnungen und Impulse von außen.« Die Sängerin ist mit ihrer Band Quijote seit Jahrzehnten eine feste Größe im Chemnitzer Kulturbetrieb. Am Tag nach Eröffnung der Kulturhauptstadt führte sie ein Programm zum ebenfalls 2025 begangenen 100-jährigen Geburtstag des griechischen Komponisten Mikis Theodorakis auf. Sie hofft auch, dass die Gäste »viel Fröhlichkeit« mitbringen. Die würde der Stadt guttun. Deren Selbstwertgefühl speist sich zu einem guten Teil aus der langen industriellen Tradition, ist aber geknickt, seit sie nach 1990 einen dramatischen Strukturwandel und den Verlust Zehntausender Arbeitsplätze verkraften musste. Wenn sie Straßenbahn fahre, schlage ihr oft eine etwas »trübsinnige Stimmung« entgegen, sagt Kühnrich. Wenn es gelänge, das im Kulturhauptstadtjahr ein wenig zu korrigieren, »würde es sich leichter leben in Chemnitz«.
Leichter leben würde es sich in der Stadt auch, wenn die extrem rechte Szene nicht so viel Raum einnehmen würde – zumindest für progressive Künstlerinnen wie Reinhardt und Kühnrich. Die Theaterfrau lässt in ihren Inszenierungen oft Menschen zu Wort kommen, die als »marginalisiert« gelten und von Rechtsextremen besonders bedroht werden: Migranten, queere Personen, People of Colour. Die Sängerin gehört zu den führenden Köpfen hinter dem Chemnitzer Friedenstag, der alljährlich Anfang März am Jahrestag der Kriegszerstörung von Chemnitz begangen wird, einem Datum, um dessen Deutung es heftige Auseinandersetzungen mit der extremen Rechten gibt.
Die war in der Stadt schon immer stark und gut vernetzt; nicht zufällig konnte das Nazi-Terrortrio des NSU hier Ende der 90er Jahre im Untergrund leben. Ein Dokumentationszentrum, das an den »NSU-Komplex« erinnert, ist ein wesentlicher Programmpunkt der Kulturhauptstadt. Zuvor unvorstellbare Stärke zeigte die Szene aber 2018, bei dem, was in Chemnitz oft verschämt als »die Ereignisse« bezeichnet wird: die vom Tötungsdelikt an einem Stadtfestbesucher ausgelösten Ausschreitungen und Hetzjagden auf Migranten und Alternative sowie der demonstrative Schulterschluss von Hooligans, AfD und Pegida bei Großdemonstrationen. Reinhardt, die später eine szenische Lesung entlang der Demonstrationsroute inszenierte, spricht noch immer erschüttert von einer »unerhörten Raumnahme« der Rechten.
Die droht im Kulturhauptstadtjahr erneut. Die rechtsextreme Splitterpartei Freie Sachsen, deren Chef Martin Kohlmann im Chemnitzer Stadtrat sitzt, habe Provokationen angekündigt, sagt Ulf Bohmann, Soziologe von der Technischen Universität Chemnitz; man wolle »2025 zum neuen 2018 machen«. Ihr Ziel bestehe darin, das Kulturfest »mindestens einmal spektakulär zu stören« und dadurch den Tenor der Berichterstattung zu beeinflussen. Ein erster Aufmarsch am vergangenen Samstag fiel indes zunächst kleiner als befürchtet aus. Dagegen beteiligten sich sehr viele Menschen an Protesten dagegen und Blockadeversuchen.
»Chemnitz muss keine Minderwertigkeitskomplexe haben.«
Gabi Reinhardt Regisseurin
Die Chemnitzer Zivilgesellschaft ist auch künftig gewillt, dagegenzuhalten. Bohmann, Kühnrich und weitere Mitstreiter haben einen »Demokratiestützpunkt« als Teil des offiziellen Programms organisiert. Es gehe darum, die Zivilgesellschaft zu vernetzen und auf eventuelle Provokationen der extremen Rechten vorzubereiten, sagt Bohmann: »Wir wollen vermeiden, dass wie 2018 alle in Schockstarre verfallen.«
Zugleich betont er, dass es sich um ein »kleines Projekt« handele – und das einzige im offiziellen Programm der Kulturhauptstadt, das die Themen Demokratie und deren Bedrohung durch Rechtsextreme aufgreife. Eigentlich, ist er überzeugt, habe Chemnitz den Zuschlag als Kulturhauptstadt erhalten in der Erwartung, dass man dort Antworten sucht auf den Umgang mit dem erstarkenden Rechtsextremismus. »›2018‹ war ein entscheidendes Argument«, sagt er. Auf die Frage, ob die Stadt dem gerecht werde, lächelt der Wissenschaftler vielsagend: »Darf ich sagen: ›Kein Kommentar‹?« Gabi Reinhardt sieht das ähnlich: Dass man das Kulturhauptstadtjahr nicht stärker nutze, um »Antworten auf 2018« zu suchen, »finde ich desaströs«, sagt sie.
Trotz solcher Defizite freuen sich Künstlerinnen wie Reinhardt und Kühnrich auf das Hauptstadtjahr – und sehen mit Bangen dem Danach entgegen. Im Stadtrat wird derzeit ein Etat debattiert, der erhebliche Einschnitte bei der Kultur vorsieht. Ein Fünftel der Gelder könnte wegfallen; ein enormer »Substanzverlust« wäre die Folge, warnt ein Protestbündnis. Auch in Land und Bund drohen die Mittel für Kultur gekürzt zu werden. Gabi Reinhardt räumt ein, ernsthaft zu überlegen, »ob ich ab 2026 überhaupt noch meinen Beruf ausüben kann«. Und Bohmann fürchtet, dass der Kahlschlag bei der Chemnitzer Kulturszene nach der Euphorie des Hauptstadtjahres zu einer harten Landung und großer Enttäuschung in der Stadtbevölkerung führen könne: »Dann heißt es womöglich: Wir hatten eine Jahrhundertchance – und haben sie nicht genutzt.«
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