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Linke-Neumitglieder: »Alle sollen es sehen«

Warum zwei junge Handwerkerinnen aus Mittelsachsen sich seit Kurzem für Die Linke engagieren

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.
Cindy Reimer (links) und Nicole Weichhold
Cindy Reimer (links) und Nicole Weichhold

Der Charakterzug, der Cindy Reimer zum Eintritt in die Linkspartei bewog, zeigte sich früh. Sie habe einen »ausgeprägten Gerechtigkeitssinn«, sagt die 32-Jährige und erzählt eine Begebenheit aus dem Mittelsachsen der 2000er Jahre, einer ländlichen Region im Dreieck zwischen den Kleinstädten Freiberg, Döbeln und Mittweida, »in der man sich entscheiden musste, ob man rechts oder links ist«, wie sie sagt: »Dazwischen gab es nichts.« Reimer traf in der Schule die richtigen Freunde und verbrachte ihre Freizeit fortan in linksalternativen Häusern wie dem AJZ in Leisnig oder dem Treibhaus Döbeln. Rechte Übergriffe waren an der Tagesordnung. Einer ihrer Bekannten wurde auf dem Heimweg von Nazis abgefangen und verprügelt. Die Täter waren in der Region bekannt. Reimer fragte den Ordnungsamtsleiter der Kleinstadt, warum nichts gegen sie unternommen wurde. Der Behördenchef druckste herum und sagte dann, mit seinen grünen Haaren sei der junge Mann »ja auch selbst ein wenig schuld«. Reimer gerät auch heute noch in Rage: »Ich empfinde es als schlimm, wenn Menschen so ungerecht behandelt werden.«

Ihr ausgeprägtes Empfinden für Gerechtigkeit führte Reimer in Die Linke – aber erst zwei Jahrzehnte später. Sie gehört zu den Neumitgliedern, die der Partei in den zurückliegenden Monaten zuströmten, nach eigenen Angaben in so beachtlicher Zahl, dass der sächsische Landesverband von einer regelrechten Eintrittswelle spricht. Viele neue Genossinnen und Genossen gibt es in Großstädten wie Leipzig, wo Studierende und in der linksalternativen Szene Engagierte die Partei stärken wollen. Nicht wenige der neu Eingetretenen, heißt es aus der sächsischen Landesgeschäftsstelle, gebe es aber auch in kleinen Städten und auf dem Land, von Menschen, die Familie haben und ein Einkommen, das in »ordentlichen Parteibeiträgen« mündet. Was führt sie in Die Linke? Warum treten sie in die Partei ein, ausgerechnet in einer Zeit, in der diese an den Folgen einer Spaltung leidet, viele Wähler verloren hat, in Ostdeutschland aus einem ersten Landtag flog, sich in Dresden nur dank zweier Direktmandate quasi durch die Hintertür ins Parlament rettete und bei der Wahl am 23. Februar auch im Bund ernsthaft um die parlamentarische Existenz bangen muss? Wird man Mitglied aus Mitleid?

Einige Antworten erhofft man sich von Reimer und Nicole Weichhold. Beide wohnen in Dörfern, die vor Jahren in die Kleinstadt Waldheim eingemeindet wurden; beide sind Mitte 30, junge Mütter und – eher untypisch für Die Linke – Handwerkerinnen: Kirchenmalerin die eine, Tischlerin die andere. Außerdem sind sie äußerst aktiv für die Partei. Reimer kandidierte im Juni 2024, damals noch als Parteilose, für den Kreistag Mittelsachsen, wurde gewählt und übernahm danach, ebenfalls noch ohne Parteibuch, die Führung der von elf auf fünf Mitglieder geschrumpften Fraktion. Derzeit tritt sie bei der Wahl eines neuen Landrats an, die nach dem vorzeitigen Rücktritt des einst von Rot-Rot-Grün unterstützten Amtsinhabers Dirk Neubauer am letzten Sonntag im Januar ansteht. Ihre Plakate versuchen sich derzeit an den Straßenlaternen der Region gegen die groteske Übermacht blauer Werbepappen der AfD zu behaupten. Demnächst kommen Plakate mit Weichholds Porträt dazu. Sie kandidiert im Wahlkreis 160 als Direktkandidatin bei der Bundestagswahl. Vergangenes Wochenende wurde sie zudem auf Platz fünf der Landesliste gewählt. Genossin ist sie nicht – noch nicht. Wenn sie in eine Partei eintritt, dann in Die Linke, sagt sie: »Bei keiner anderen Partei könnte ich mir das vorstellen.«

»Mehrere Neueintritte pro Stunde«

Der Wählerzuspruch zur Linken lässt derzeit zu wünschen übrig, in Umfragen rangiert die Partei rund drei Wochen vor der Bundestags­wahl weiter unter der kritischen Marke von fünf Prozent. Mitglied wollen allerdings viele Menschen werden. In Sachsen wurde erstmals wieder die Marke von 7000 Genossinnen und Genossen überschritten. Das sind 1000 mehr als ein Jahr davor. Dabei stünden 739 Austritten seit Oktober 2023 exakt 1851 Eintritte gegenüber, heißt es.

Der Ansturm ist dabei keineswegs auf Großstädte beschränkt. Mehr als 40 Prozent der Neumitglieder im Freistaat lebten außerhalb von Leipzig, Dresden und Chemnitz. Landesgeschäftsführer Lars Kleba erklärte: »Dass nun seit über einem Jahr anhaltend Hunderte Sächsinnen und Sachsen unserer Partei beitreten, macht uns Mut.«

Als Mutmacher betrachtet man die Entwicklung auch in anderen Bundesländern. In Baden-Württemberg etwa wurden im November 125 neue Mitglieder binnen weniger Tage vermeldet, es gebe »mehrere Neueintritte in der Stunde«. Landessprecherin Sahra Mirow sprach von einer »bemerkenswerten Eintrittswelle« und betonte, dank dieser gehe man »gestärkt in einen vorgezogenen Wahlkampf«.

Bundesweit summierte sich die Zahl der Neumitglieder bereits beim vergangenen Bundesparteitag im Oktober in Halle auf über 10 000, die binnen Jahresfrist in Die Linke eingetreten seien. Diese Zahl nannte die damals scheidende Bundesvorsitzende Janine Wissler. Sie würden, fügte sie an, »dabei helfen«, wieder als Fraktion in den Bundestag einzuziehen. hla

Der politische Werdegang der beiden Frauen, die dieser Tage nebeneinander von Plakaten lächeln, ist durchaus unterschiedlich. Reimer organisierte bereits mit 13 Jahren ihre ersten Antifa-Demos. Als ihre Ausbildung zur Kirchenmalerin sie später außer nach München auch nach Berlin führte, engagierte sie sich dort in linken Gruppen gegen Gentrifizierung. Nur während ihrer Tätigkeit auf der Nordseeinsel Norderney pausierte ihr Aktivismus: »Dort lebt man in einer ganz besonderen, unpolitischen Blase«, sagt sie. Als die junge Frau, die der von Konservativen und Rechten dominierten sächsischen Provinz eigentlich dauerhaft den Rücken hatte kehren wollen, aus familiären Gründen doch wieder nach Waldheim zurückkehrte, gründete sie mit Gleichgesinnten die »Bunten Perlen«, ein Bündnis, das mit kreativen Aktionen den in der Corona-Zeit begonnenen »Montagsspaziergängen« von Rechtsextremen und Verschwörungstheoretikern entgegentrat.

Bei den »Bunten Perlen« meldete sich auch Nicole Weichhold, die Tischlerin. Den Anstoß habe die Correctiv-Recherche gegeben, die Anfang 2024 die Pläne von Rechtsextremen und AfD-Politikern zur »Remigration« enthüllte. Sie habe das als »menschenverachtend« empfunden und wollte sich daraufhin auch politisch so engagieren, »dass alle es sehen«, wie sie sagt. Zuvor schon hatte sie sich regelmäßig am konservativen Frauenbild in ihrem Umfeld gestört, in dem Politik nur etwas für Männer sein sollte. Sie hat am eigenen Leib erfahren müssen, wie abschätzig manche mit Menschen umgehen, die aus vermeintlich »sozial schwachen« Verhältnissen stammen. Mit 18 Jahren hatte sie sich von ihrem ersten Freund getrennt, als klar wurde, dass dieser bei einer Bundestagswahl das Kreuz bei der NPD setzen wollte, und erschrak, dass Mitschüler den rechten Arm hoben, als im Geschichtsunterricht über den Holocaust gesprochen wurde. Offen engagiert hatte sie sich nie – womöglich auch, weil anders als bei Reimer der Kontakt zu Gleichgesinnten fehlte: »Bei uns in der Gegend«, sagt sie, »gab es ›Sturm 34‹ und sonst nichts.« Die rund um Mittweida aktive Neonazi-Kameradschaft wurde von Sachsens Innenminister 2007 verboten.

Die »Bunten Perlen« stellten Kontakt zu Gleichgesinnten her, einige von ihnen sogar aus Weichholds Dorf. Sie vermittelten zudem das Gefühl, dem in Sachsens ländlichen Regionen allgegenwärtigen Rechtsruck etwas entgegensetzen zu können. Die Gruppe ersann kreative Aktionen. Der rechte Spaziergang wurde zum Spendenlauf für Demokratieprojekte umdeklariert, Feste auf dem Marktplatz wurden ebenso organisiert wie Lesungen und Ausstellungen. Überregional wurde das Engagement honoriert: Im November 2024 wurden die »Bunten Perlen« mit dem Sächsischen Förderpreis für Demokratie ausgezeichnet. Gleichzeitig wurden der Initiative von Stadtpolitik und Verwaltung freilich permanent Steine in den Weg gelegt. Es gab Ärger um Genehmigungen, um angeblich zu laute Musik, um die Rednerliste bei Kundgebungen: »Wir liefen ständig gegen Wände«, sagt Reimer.

Unterstützung gab es von der Linken, die mit Expertise half, Kontakte vermittelte, Technik bereitstellte. Gleichzeitig suchte die in der Region gebürtige Kreisvorsitzende Marika Tändler-Walenta engagierte Frauen wie Reimer und Weichhold für die Parteipolitik zu gewinnen. »Wir betreiben im Kreisverband feministische Politik«, sagt Reimer, die mittlerweile dessen Ko-Chefin ist: »Starke Frauen sind unser Steckenpferd.« Sie selbst entschloss sich, die Offerte für eine Kandidatur bei der Kommunalwahl anzunehmen. Zum einen halte sie es für wichtig, »dass nicht nur Verwaltungsleute in den Parlamenten sitzen, sondern auch Menschen aus dem Arbeitsleben«. Zum anderen sei sie zu der Einsicht gelangt, dass sich etwa für die Belange von Handwerkern mehr erreichen lasse, »wenn man sich politisch engagiert und seine Kräfte in einer Fraktion bündelt«.

»Alle sind ausgetreten, ich bin eingetreten.«

Cindy Reimer 
Neumitglied und Landratskandidatin

Das hätte freilich nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie auch Mitglied der Partei werden muss. Reimer zögerte lange mit diesem Schritt. Zum einen hat sie festgestellt, dass Vorbehalte etwa unter Handwerkerkollegen gegenüber einer Parteilosen geringer sind als gegenüber einer Genossin. Eine Mitgliedschaft sorge auch für Aversionen: »Man muss damit umgehen können, nicht gemocht zu werden.« Zudem habe sie das »Korsett« gescheut, in das sie sich durch eine Mitgliedschaft gezwängt sieht. Es gibt Termine in Ortsgruppen und Gremien, es gibt teils langwierige Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse, es gibt Parteitage wie den zur Aufstellung der Landesliste, in deren Vorfeld viele für Neulinge undurchsichtige Absprachen im Hintergrund getroffen werden. Nicht zuletzt gilt es Loyalitäten zu beachten. »Ich spreche nicht mehr nur für mich, sondern als Mitglied oder als Landratskandidatin der Partei«, sagt Reimer, die sich manche impulsive Äußerung in den sozialen Medien jetzt selbst verbietet.

Dass sie trotz dieser Bedenken nach der sächsischen Landtagswahl im September den Mitgliedsantrag stellte, hat nichts mit der schwierigen Lage der Partei zu tun. Sie sei nicht aus Mitleid eingetreten, sondern »aus Dankbarkeit«, sagt Cindy Reimer: »Die Linke hat mir auch schon als Parteiloser viel ermöglicht«, sagt sie. Sie wolle »etwas zurückgeben, gerade in einer Zeit, in der viele aus Altersgründen nicht mehr in die Bresche springen können«. Befördert wurde ihr Entschluss durch politische Klärungsprozesse in der Partei. »Ich wäre nicht eingetreten, solange Sahra Wagenknecht Mitglied ist«, sagt sie. Der Hinderungsgrund fiel weg, als diese ihre eigene Partei gründete, in der nun auch nicht wenige bisherige Linkspartei-Mitglieder aktiv sind: »Alle sind ausgetreten, ich bin eingetreten«, sagt sie lachend.

Die Einzige ist sie auch in Mittelsachsen nicht. Gleichzeitig ist die Zahl der Eintritte in dem riesigen Landkreis so überschaubar, dass eine eigene Struktur für Neumitglieder nicht sinnvoll erscheint. Sie arbeiten in Basisgruppen und Gremien mit den gestandenen Genossen zusammen – und fühlen sich alles andere als abgeschreckt. »Es gibt viel Offenheit«, sagt Cindy Reimer. Und Nicole Weichhold ergänzt, sie erlebe in der Linken »so viele ältere Männer wie sonst nirgendwo, die mich als junge Frau in der Politik wertschätzen«.

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