Für alle, die noch nicht fertig sind

Linientreu jenseits der Linien: Die ersten beiden Bände der »Gesammelten Schriften« von Hermann L. Gremliza

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 7 Min.
Seine Schriften gehören zum ABC linken Denkens in Deutschland: Hermann L. Gremliza.
Seine Schriften gehören zum ABC linken Denkens in Deutschland: Hermann L. Gremliza.

Mehr Aufrüstung, mehr staatlicher Zwang, mehr Deutschland – so tönt es im Bundestagswahlkampf. Was können Linke und überhaupt alle, die sich an so etwas noch stören, da nur machen? Hermann L. Gremliza lesen, fürs Erste.

Warum? Erstens schrieb der 2019 verstorbene Herausgeber der Hamburger Zeitschrift »Konkret« lebenslang gegen solche Übel an. Er begriff sie – völlig korrekt – nicht als unschöne Nebenwirkungen einer an sich heilsamen Sache, sondern als ebenjenes Gift, das aus der falschen Gesamtorganisation der gesellschaftlichen Arbeit ausströmt. Zweitens hat Gremliza bei der Beschreibung dieses Unglücks Maßstäbe gesetzt, an denen sich vor und nach ihm nur wenige messen können. Dass sich der 1940 Geborene Karl Kraus als eines seiner Vorbilder wählte, war keine Anmaßung. Drittens liegen nun die ersten beiden von insgesamt 18 Bänden der »Gesammelten Schriften« vor, die seine Tochter und aktuelle »Konkret«-Herausgeberin Friederike Gremliza und der langjährige »Konkret«-Redakteur Wolfgang Schneider edieren. Die zwei Bände umfassen die frühen Jahre von Gremlizas Veröffentlichungen, 1963 bis 1978.

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Als Gremliza 1972 bei »Konkret« als neuer Mitarbeiter und »›Spiegel‹-Linksabweichler« vorgestellt wird, kämpft die Zeitschrift unter Klaus Rainer Röhl an der »Sexfront«, mit viel nackter Haut und Schlüssellochreporten. Beim »Spiegel« war Gremliza zuvor gelandet, nachdem er 1966 an der FU in Westberlin sein Studium der Politikwissenschaft abgeschlossen hatte, wo er im »FU-Spiegel« unter Pseudonym schrieb. In Tübingen hatte er bereits beim Studentenblatt »Notizen« als Redakteur gewirkt. Dem akademischen Nachwuchs erklärte Gremliza, was in anderen Zeitungen steht, in der liberalen »Zeit« oder – »hinten so braun wie vorne stramm« – in der »Deutschen National-Zeitung«.

Man erahnt bereits, was später Gremlizas »Express« wird: der bissige Kommentar auf das deutsche Medienunwesen. Mit seinem berühmten Text »Die braune Universität« hob Gremliza zudem die Tübinger Talare und zeigte den Muff von tausend Jahren. Die Reaktion kam prompt: Der Verfasser werde vom Osten bezahlt, hieß es: »Kübel voll Jauche haben die ›Notizen‹ über die Universität gegossen!«

Was Gremliza beim »Sturmgeschütz der Demokratie« genannten »Spiegel« trieb – immerhin in der Zeit von Alt-Nazi Kurt Georg Kiesinger als Bundeskanzler und Neu-Nazis von der NPD –, kommt in den »Gesammelten Schriften« leider nur in den Fußnoten vor. Mit Herausgeber Rudolf Augstein gab es Krach um die Mitbestimmung, 1971 schmiss Gremliza hin. Weil seine damaligen Texte nicht namentlich gezeichnet waren und Gremliza selbst kein Archiv führte, gibt es in den »Gesammelten Schriften« einige »Lücken«, wie Schneider in der editorischen Vorbemerkung schreibt.

Für die »Konkret«-Zeit lassen sich Gremlizas Texte einfacher zuordnen, sie umfassen die politischen Kolumnen, das »Interne« und die Medienschau »Express«, dazu kommen gelegentliche Literaturbesprechungen unter Pseudonym oder eine Reportage aus der DDR. Krach gibt es bald auch mit »Konkret«-Herausgeber Röhl, dem Gremliza vorwirft, die Zeitung nach »Maximen eines Krauterladens« zu führen. Nun ist es der Herausgeber, der hinwirft und mit »Das Da« eine neue Zeitschrift als Spielwiese gründet. Röhl räumt das Feld für Gremliza.

1974 beginnt bei »Konkret« eine neue Ära. Gremliza, der die Zeitschrift als Verleger, Herausgeber, Chefredakteur und anfangs überhaupt einziger Redakteur betreibt, schreibt: »Alle reden vom Fehlen einer unabhängigen linken Zeitung – wir machen eine.« Wir? Das ist eine Reihe von Autoren und freien Mitarbeitern, die Gremliza zur Mitarbeit einlädt, von Rudi Dutschke über Heinrich Böll bis Günter Wallraff. Fast vier Jahre später, als kurzzeitig die legendäre Verlegerwitwe Inge Feltrinelli als Teilhaberin zur Konsolidierung eingestiegen ist, hält Gremliza fest, dass man sich als das »einzig ernst zu nehmende Organ auf der demokratischen Linken außerhalb der etablierten Parteien« etablieren konnte. Man sei eben ein »Partei-Blatt«. Wie bitte? »Und zwar jeweils das der anderen Partei: für die DKP ein SPD-Blatt, für die SPD eine Vierte-Partei-Blatt, für den KB ein DKP-Blatt, für den Gewerkschaftsfilz ein RGO-Blatt, für den KBW ein Bonzen-Blatt und so weiter.« Linientreu jenseits der jeweiligen Linien. Gremliza versteht es, verschiedene Haltungen in eine sinnvolle Diskussion zu bringen. Dafür braucht er keine Etiketten wie beispielsweise »linkspluralistisch«.

Nun weiß man, wie die Parteien zu »Konkret« stehen. Aber wie steht Gremliza zu den Parteien? Immerhin ist der Mann SPD-Mitglied, noch bis 1989. Die »Gesammelten Schriften« geben Auskunft: Der Sozialdemokratie wirft Gremliza vor, auf dem Weg »vom Marxismus zum Marketing, vom Aufklärer zum Aufkleber« zu sein. Mit großem Getue behaupte die SPD, sich von den Ideologien zu verabschieden, um sich einer der größten Ideologien an den Hals zu schmeißen: der »Mitte«. Um der Mitte zu huldigen, werden Genossinnen und Genossen abgestraft, die gegen Wiederbewaffnung, Atomwaffen oder Notstandsgesetzgebung kämpfen. Weil: »Klassenkampf und Mitte schließen sich aus.« Und Gremliza will Ersteres.

Als Willy Brand bei der vorgezogenen Bundestagswahl 1972 wiedergewählt wird, konstatiert Gremliza nüchtern: »Marx hat nicht gesiegt und Hitler noch nicht verloren.« Und ruft zum Kampf gegen das SPD-Establishment auf. 1976, als Helmut Schmidt gegen Helmut Kohl und Franz Josef Strauß antritt, warnt Gremliza unter der Zeile »Schmidt wählen?« eindringlich davor, Mathematik mit Glaubensfragen zu verwechseln: »Eine Wahlkabine ist kein Beichtstuhl.« Und warnt vor Schmidt, unter dem die Linke zu ersticken drohe.

Wie passt das alles zusammen? Wie nennt man einen SPDler, der nach Jahren der SPD-Regierung schreibt, dass »die Bundesrepublik am Ende der Regierung Erhard ein liberalerer Staat war als heute – ohne Notstandsgesetze, ohne Berufsverbote«? Der als »Spalter« gilt, weil er in seinem Blatt abweichende SPDler zu Wort kommen lässt, aber zur DKP abwandernden Genossen attestiert, sie könnten »vor lauter Eitelkeit und Beleidigtsein das Parteibuch nicht mehr halten«? Der die DKP gegen Henryk M. Broder verteidigt, aber eine Reportage über die Sowjetunion aus dem DKP-Vorstand »lyrischen Dreck« nennt? Der fordert, der RAF die Solidarität zu entziehen, die diese selbst nie geübt habe, sich aber auch nach der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback nicht den verfolgenden Staatsschutzorganen andienen will? Der die »Durchsetzung von Demokratie« fordert, aber zugleich das Ende des »verdummenden Schlagworts von der ›Gemeinsamkeit der Demokraten‹«? Wie also nennt man so jemanden? Einen Dialektiker. Das ist einer, der keine Parolen trötet. Der bei auftauchenden Widersprüchen nicht vor Schreck das Denken entsorgt, sondern beginnt.

Ein Beispiel: Gremliza ruft auf, in die Bundeswehr zu gehen, um sie abzuschaffen. »Wir wollen Abrüstung, wir wollen eine innere und äußere Ordnung, die den Beruf des legitimierten Tötens überflüssig macht. Doch nur eine demokratische Armee lässt sich abbauen. Jede andere putscht.«

Ein anderes Beispiel: Als es wieder einmal Knatsch mit dem gegen den Ostblock stänkernden Dutschke gibt, erwidert Gremliza nüchtern, man müsse »immer wieder die Machtfrage stellen. Und die ist – siehe Chile – auf nicht absehbare Zeit ohne die Einbeziehung der Weltmacht UdSSR nicht positiv zu entscheiden«. Jedenfalls: »Mehr Menschenrechte in Osteuropa werden wir nicht mit Jimmy Carter und der Nato schaffen.«

Letztes Beispiel: »Der Kampf Israels gilt nicht nur kolonialer Expansion, der Kampf der Araber nicht nur der Befreiung unterdrückter und ausgebeuteter Landsleute. Da ist viel folkloristisch aufgeputzter Terror im Spiel, und nicht jeder, der sich ein schmutziges Handtuch um den Kopf schlingt, ist darum schon ein Revolutionär.«

Müsste das nicht alles zum ABC des linken Denkens gehören? Buchstabieren lässt sich allerdings wieder lernen, am Ende sogar vernünftiges Sprechen. Gut tausend Seiten Gremliza helfen in ihrer Klugheit ungemein, vergnüglich sind sie außerdem. Dass man einige Namen in den Texten – vor allem in der bunten »Express«-Mischung – nicht mehr kennt, stört keineswegs. Was Gremliza in der Hauptsache mitzuteilen hatte, waren nicht Informationen, sondern Haltungen zu anderen Haltungen. Und das teilt sich bis heute weiterhin mit – egal, ob die im Wahlkampf wieder kurz links blinkende SPD oder die seit Corona in stabile Zeitenwendelage versetzte Bundesrepublik ähnlich furchtbar oder schlimmer als damals sind.

Gremlizas »Gesammelte Schriften« darf man getrost Pflichtlektüre nennen – für alle, die von und mit den herrschenden Verhältnissen noch nicht fertig sind. Und das Beste ist: Es kommen noch 16 weitere Bände.

Hermann L. Gremliza. Gesammelte Schriften in 18 Bänden. Konkret-Verlag. Bd 1: 1963–1975, 545 S. Bd. 2: 1975–1978, 485 S., je 30 € in der Subskriptionsausgabe.

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