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Abor & Tynna beim ESC: It’s the Performance, stupid
Das Geschwisterpaar Abor & Tynna aus Österreich vertritt Deutschland beim ESC in Basel
Das aus Österreich stammende Geschwisterpaar Abor & Tynna fährt mit seinem Song »Baller« zum Eurovision Song Contest (ESC) nach Basel. Sie setzten sich im großen Finale von Stefan Raabs Castingshow-Spektakel »Chefsache Deutschland 2025« im Zuschauer-Voting gegen vier Konkurrenten durch. Auf den beiden ruhen große Hoffnungen, denn Raab hat nichts Geringeres als den Sieg beim Eurovision Song Contest als Ziel ausgegeben.
»Baller« ist ein poppiger Elektro-Hip-Hop-Song mit einer Hook, die man nie mehr vergisst. Außerdem ist es der erste deutschsprachige ESC-Song seit 20 Jahren. Abor & Tynna sind klassisch ausgebildete Musiker*innen, deren Zusammenarbeit an Billie Eilish und ihren Bruder Finneas erinnert. Die Schwester singt zu den vom Bruder produzierten Tracks. Bühnenerfahrung haben die beiden auch schon, sie sind als Support Act von Nina Chuba aufgetreten.
Stefan Raab hin, Chefsache her, ohne Barbara Schöneberger wäre dieses Finale keine echte ESC-Erfahrung gewesen. In ihrer gewohnt rustikalen Weise führte sie im metallisch schimmernden Kleid routiniert durch die Sendung. Chef Raab und seine Juroren taten das, was sie in den bisherigen Sendungen auch schon sehr gut gemacht hatten: Sie lobten die Künstler*innen vor allem. Zwischen dem zum Monologisieren neigenden Raab und der immer mitgerissenen Yvonne Catterfeld herrschte ohnehin eine gute Chemie, Conchita Wursts Grandezza sorgte für den nötigen ESC-Flair, dagegen wirkte Nico Santos schüchtern, als wäre er der Praktikant. Raabs Expertisen gewährten immer wieder einen tiefen Einblick in sein konservatives Weltbild. Etwa dann, wenn er erklärte, dass Frauen beim ESC nur Balladen mögen. Zum Glück fing La Schöneberger diese gepflegten kleinen Sexismen gekonnt ironisch ab.
Raabs Expertisen gewährten immer wieder einen tiefen Einblick in sein konservatives Weltbild.
Zunächst waren neun in der vorigen Sendung ermittelte Finalisten gegeneinander angetreten. Wie bisher auch stellten sie sich zunächst mit der Coverversion eines bekannten Hits vor und performten dann ihren Wettbewerbsbeitrag. Alle Acts traten live auf, begleitet wurden sie dabei von der hochprofessionellen Band Heavy Tones. Nach den neun größtenteils gelungenen Performances sortierte die Jury vier Acts nach nicht näher definierten Kriterien aus. Darunter den mit einer Powerballade angetretenen Benjamin Braatz, der dem lockenköpfigen jungen Olaf Scholz zum Verwechseln ähnlich sieht.
Ärgerlich war das Ausscheiden der singenden und rappenden Ritter der Gruppe Feuerschwanz. Was sich zunächst anhört wie entzündete Genitalien, entpuppte sich bei näherem Kennenlernen als höchst originelle Mischung aus Mittelalterrock, Goth, Hip-Hop und Blood and Glitter. Ihren eingängigen Wortspiel-Hit »Knightclub« hauten sie den Zuschauer Feuer versprühend um die Ohren.
Im Zuschauer-Voting der letzten fünf erreichte die Sängerin Lyza hinter den Sieger*innen Abor & Tynna einen starken zweiten Platz. Ihr Song »Lovers on Mars« lag irgendwo zwischen der jungen Alanis Morissette, Melissa Etheridge und der ESC-Countryband Texas Lightning. Der Brite Moss Kena erreichte mit der typischen ESC-Powerballade »Nothing Can Stop Love« den dritten Platz. Mit deutlichem Abstand dahinter platzierte sich die Sängerin Leonora mit ihrem souligen, aber wenig eingängigen Song »The Bliss«.
Den fünften Platz belegte die großartige Band The Great Leslie mit dem knalligen Rocksong »These Days«. Die Band klang nicht nur nach Måneskin, den italienischen ESC-Gewinnern im Jahr 2021, sie sah auch so aus. Ein dunkelhaariger Sänger im Netzhemd, eine tanzende Bassistin und ein hingerotzter Rocksong. So viele extrem überzeugende Acts gab es bei einem ESC-Vorentscheid schon lange nicht mehr.
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Man kann von Stefan Raabs Weltbild und seinem anachronistischem Comeback halten, was man will, was er mit den Chefsache-Shows für den ESC in Deutschland getan hat, verdient allerhöchste Anerkennung. Die Shows waren unterhaltsam und hatten ordentliche Quoten. Italien wählt seine ESC- Teilnehmer beim traditionellen San-Remo-Festival aus, Schweden beim Melodifestivalen und Spanien beim Benidorm Fest. Alle diese Shows sind in ihren Ländern fest verankerte Quotengaranten. Der in Deutschland zuständige NDR hat in den letzten Jahren ziemlich mutlos beliebige Konzepte durchgetestet. Erst im vergangenen Jahr ging es mit originellen und modernen Ideen aufwärts.
Raabs Chefsache-Showreihe setzte das jetzt in großem Maßstab fort. Seine Sendungen haben genau das geleistet, was andere europäische Vorentscheide erfolgreich gemacht hat: Die Zuschauenden hatten die Chance unterschiedliche Facetten der ESC-Kandidat*innen kennenzulernen. Sie konnten sich mit den Acts anfreunden und Fans werden. Das wird hoffentlich auch das Interesse der Zuschauer*innen am ESC-Finale in Basel befeuern.
Ob Abor & Tynna die großen Erwartungen erfüllen können, wird sich zeigen. Noch liegt viel Arbeit vor ihnen. Die beiden hatten zwar den coolsten Song, aber leider auch die am schlechtesten choreografierte Performance. Und es ist die Performance, die den Goldstandard beim ESC ausmacht.
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