Tommy Orange: Wie man auseinandergerissen wird

Tommy Orange erzählt eine spannende wie bestürzende indigene Familien-Saga in den USA vom 19. Jahrhundert bis heute

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.
Das Sand-Creek-Massaker 1864
Das Sand-Creek-Massaker 1864

Tommy Orange dürfte derzeit einer der medial bekanntesten indigenen Personen in den USA sein. Der aus Portland stammende, 43-jährige Schriftsteller erhielt für seinen Debütroman »Dort, dort« (2019), in dem er vom Alltagsleben vor allem junger indigener Menschen in den USA erzählt, den renommierten National Book Award. Doch er möchte kein Sprecher indigener Belange mit medialer Reichweite sein, wie er vor knapp einem Jahr in einem Interview mit dem Fernsehsender CBS erklärte. Als Mitglied der Cheyenne und Arahapo-Nation wolle und könne er nicht für alle Indigenen in den USA sprechen.

Sein neues Buch »Verlorene Sterne«, das für den Booker-Prize nominiert war, erzählt wieder auf sehr intime, aber auch auf politische und gleichzeitig verstörende Weise vom Leben indigener Menschen, in einem weiten Erzählbogen, der von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute reicht. Im Zentrum steht der junge Orvil Red Feather, Mitglied der Cheyenne-Nation, der im kalifornischen Oakland wohnt und auch schon in Oranges Debütroman auftauchte. Insofern ist »Verlorene Sterne« ebenso Prequel wie Sequel von »Dort, dort«, lässt sich aber auch völlig unabhängig davon lesen. Orvil ist nach einer Operation abhängig von Schmerzmitteln. Dieses Schicksal der Sucht teilt er mit einem Großteil seiner Vorfahren in den letzten 150 Jahren, egal ob männlich oder weiblich.

Das Buch beginnt mit dem Sand-Creek-Massaker 1864, einem der schlimmsten Ereignisse der sogenannten Indianer-Kriege, die Anfang des 17. Jahrhunderts begannen und ihren Schlusspunkt 1924 mit der brutalen Repression gegen aufständische Apachen durch das US-Militär fanden. Orvils Ururur-Großvater Jude Star überlebte 1864 und wurde kurze Zeit später nach Florida deportiert, wo er ins erste Umerziehungslager für indigene Menschen gesteckt wurde. Das hatte der ehemalige Armeeoffizier Richard Henry Pratt gegründet, dessen Wahlspruch lautete: »Man muss den Indianer töten, um den Menschen zu retten.« Dieser Satz wurde zu einer viel zitierten Parole in jener Zeit und macht deutlich, wie brutal und systematisch indigene Kultur und Identität in den USA Ende des 19. Jahrhunderts bekämpft wurden.

Nach seiner Entlassung als vermeintlich assimilierter amerikanischer Bürger wird Jude Star drogenabhängig. Ebenso wie seine Kinder konsumiert er Peyote-Kaktus, spätere Generationen nehmen dann Laudanum, ein Opiat, das vor allem im späten 19. Jahrhundert reichlich konsumiert wurde. Im 20. Jahrhundert sind Alkohol und Heroin die Drogen, von denen die Familienmitglieder abhängig werden. Im heutigen Oakland nimmt Orvil, der Nachfahre von Jude Star, jede Menge Pillen zu sich und taumelt von einem Rausch zum nächsten.

Immer wieder geht es um Gewalt, rassistische Ausgrenzung und systematische Repression. Jude Star wird als junger Mann in der berüchtigten Carlisle Indian Industrial School regelmäßig verprügelt und zum Christentum zwangskonvertiert. Seine Kinder werden an der Ausübung religiöser Rituale, etwa bei Beerdigungen, gehindert. Der Kampf um die eigene Geschichte und der immer wieder scheiternde Versuch, die Familie zusammenzuhalten sind die zentralen Motive dieser Saga.

Wobei aber kein simpler Opfermythos inszeniert wird. Tommy Orange wechselt in harten Schnitten die Erzählperspektiven, seine Figuren melden sich zu Wort und formulieren ihre Hoffnungen und Ängste. Selten bleiben die Familien zusammen, meist werden sie gewaltsam auseinandergerissen. Kinder wachsen bei weißen Familien auf, leben meist in einem prekären Status zwischen Adoptivkind und Haushaltshilfe. Diese vielstimmige Familiengeschichte mäandert durch die Jahrzehnte mit vielen Brüchen und Konflikten. Menschen gehen genauso verloren wie ihre Kultur und Identität. Im 20. Jahrhundert ist es dann schwierig, überhaupt herauszufinden, zu welcher indigenen »Nation« jemand gehört und wie viel indigenes Erbe in jedem und jeder einzelnen steckt.

Mit dieser Frage hadert auch der junge Orvil im heutigen Oakland, dessen Geschichte fast die Hälfte des Romankorpus umfasst. Orvil lebt mit seinen beiden Brüdern bei der Großtante Opal, nachdem die Mutter an Krebs gestorben ist. Irgendwann kommt auch die ehemals heroinabhängige Großmutter Jacquie zu ihnen und sie versuchen, gemeinsam als Familie zusammenzuleben. Das ist von zahlreichen Konflikten geprägt und eskaliert immer wieder. Am Ende sucht sich Orvils Bruder seinen eigenen Weg und wieder wird die Familie auseinandergerissen.

Tommy Orange erzählt dieses Sozialdrama stilistisch beeindruckend mit einer unglaublichen Spannung. Anders als im Filmbereich, etwa mit »Funny Dance«, gibt es solche Einblicke in das Leben und Selbstverständnis indigener Menschen im heutigen Amerika in literarischer Form sonst nicht.

Tommy Orange: Verlorene Sterne. A. d.Amerik. v. Hannes Meyer. Hanser Berlin, 304 S., geb., 26 €.

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