- Kultur
- Die Kinder von Auschwitz
»Wir konnten es nicht mehr ertragen«
Sie waren die unschuldigsten und wehrlosesten Opfer der Nazis: die Kinder von Auschwitz
Als am 27. Januar 1945 Truppen der Roten Armee die Lager von Auschwitz und Birkenau erreichten, waren die SS-Wachen bereits geflohen, in den Baracken vegetierten noch etwa 7000 Menschen – Frauen und Männer, die zu schwach waren, auf die Todesmärsche getrieben zu werden. Unter ihnen befanden sich aber auch etwa 650 Kinder. Befreiung? Von der täglichen Pein, von Schlägen und drohendem Tod vielleicht, von den seelischen Folgen – niemals. Auschwitz hört nicht auf.
Es ist üblich, zu runden Jahrestagen festliche Veranstaltungen zu organisieren, Besonderheiten hervorzuheben und diese zu feiern. Dörfer, Gemeinden, Städte und sogar Staaten feiern das x-te, hundertste, fünfhundertste oder tausendste Jahr ihres Bestehens. Dabei werden Ereignisse gefeiert, an die sich kein Lebender mehr erinnern kann. Ereignisse, die im Verlauf der Geschichte zu Geschichten wurden, nicht wenige Male umgeschrieben und umgedeutet.
Doch wie begegnet man dem Jahrestag einer Befreiung aus der Hölle? Dem Jahrestag eines Wendepunkts vom Tod zum Leben? Vom Überleben zurück ins Leben? Einen Jahrestag, von dem nur noch wenige Zeitzeugen berichten können? Heute nur noch Menschen, die in frühester Jugend und Kindheit schon verloren haben, was Generationen Vor- und Nachgeborener als selbstverständlich erachteten und erachten: eine Zukunft.
In den seit den Januartagen des Jahres 1945 vergangenen Jahrzehnten hatte sich bei vielen gezeigt: Der 27. Januar war nur ein formell ein Wendepunkt. In der Wirklichkeit des Lebens nach Auschwitz hat er nicht stattgefunden.
Der tatsächliche Wendepunkt hatte sich in den Monaten und Jahren vor der Deportation in die Lager ereignet. War über europäische Familien mit dem Einfall der Wehrmacht, mit der Gewalt des Krieges über sie hereingebrochen. In der Tschechoslowakei, in Polen, Frankreich, Belgien, Dänemark, Griechenland, Ungarn, Rumänien und Italien ... Überall dort, wo im Gefolge der deutschen Soldaten SS- und Gestapo-Einheiten erschienen, wurden Lebensläufe brutal beendet und verändert.
»Wir lebten in einer wohlhabenden Familie in Kolozsvár«, erinnerte sich Menashe Lorenzi im Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen. Der heute im israelischen Netanya lebende Unternehmer wurde 1934 als András Lörincz geboren, seine Zwillingsschwester hieß Lea. Ihr Vater betrieb mit einem seiner vier Brüder ein Außenhandelsgeschäft. Auch die Familie der Mutter war zahlreich, sie hatte drei Schwestern und vier Brüder. Familienfeste, jüdische Feiertage, Jahreswechsel – als dies wurde stets in großer Gemeinschaft begangen. Doch dann kam der Krieg. Die deutsche Besatzung machte dem friedlichen Leben ein jähes Ende. Im März 1944 wurde die Familie nach Auschwitz deportiert. Dass András und Lea überlebten, hatten sie einem besonderen Umstand zu verdanken:
Bei der Ankunft auf der Rampe in Birkenau sortierte der SS-Arzt Josef Mengele die Zwillinge für seine Experimente aus. Alle anderen Familienmitglieder kamen sofort in die Gaskammern. Lea bekam die Nummer A-7059, András die Nummer A-12090 in den linken Unterarm tätowiert. Monate der Qual und der Schmerzen folgten. Die beiden gehört zu den wenigen Überlebenden des mörderischen Arztes. Sie zählten am Tag der Befreiung von Auschwitz zehn Jahre. Nach langsamer Erholung in einem Krankenhaus kehrten sie in ihre nun in Rumänien liegende Stadt zurück, die fortan Cluj hieß. »Doch von den Menschen, die wir kannten, war kaum jemand zurückgekommen. Und von den wenigen Überlebenden, die wir trafen, wurden wir immer mit ihren Kindern verglichen: ›Meine Tochter wäre jetzt so alt, mein Sohn jetzt so groß.‹ Wir konnten dies nicht mehr ertragen und gingen 1951 nach Israel.« Aus András Lörincz wurde Menashe Lorenzi. Er und seine Schwester gründeten Familien, bekamen Kinder und Enkel.
Ähnlich erging es Eva und Miriam Zeiger, Judith Csengeri, Anita Franková und Helga Weissová aus Prag. Eugeniusz Dabrowski und Jadwiga Gontarek aus Warschau, aber auch Ludmila Botscharowa aus Sambor in der Ukraine. Das sind nur einige der Kinder von Auschwitz, von insgesamt 180, die von sowjetischen Frontkameraleuten vier Wochen nach der Befreiung auf Zelluloid festgehalten wurden.
Die Kinder hatten überlebt, besuchten Schulen, studierten oder absolvierten eine Berufsausbildung. Und sie schwiegen über das Erlebte. Aus Scham, überlebt zu haben. Sie schwiegen, um zu verdrängen, um die Albträume, die sich Nacht für Nacht in den Schlaf drängten, nicht auch die Tage beherrschen zu lassen. Schwiegen im Glauben, dass ihnen sowieso niemand glauben würde, glauben könne.
1987 traf ich bei Recherchen zu den Schicksalen der Kinder von Auschwitz erstmalige Eugeniusz Dabrowski in seiner Warschauer Wohnung. Es hatte langes Überreden seitens seiner Freundinnen und Freunde vom »Klub der Kinder von Auschwitz« gebraucht, der sich in der polnischen Hauptstadt gegründet hatte. Schließlich erklärte er sich bereit zu reden. Seine Frau und die inzwischen erwachsenen Kinder mussten jedoch in der Küche bleiben, abgeschottet von unserem Gespräch. Es sei das erste Mal nach der Befreiung, dass er mit einem Außenstehenden über Auschwitz-Birkenau spreche, erklärte Dabrowski.
Zum 50. Jahrestag der Befreiung 1995 traf ich ihn und seine Familie wieder. Sie freuten sich, mich zu sehen. Denn unser Treffen hätte eine Schleuse geöffnet: Die Tochter hatte nach dem Gespräch mit »dem Deutschen« darauf insistiert, dass es nun auch an der Zeit sei, dass der Vater sich auch der Familie gegenüber öffne. Und dies hätte allen geholfen, viele Eigenheiten, die sich im Zusammenleben ereigneten, erklären zu können.
Das Trauma der Kinder von Auschwitz blieb und bleibt – nicht bei ihnen allein. Kinder und Enkel der Überlebenden spüren die Ängste und Unruhen der Elterngeneration. Sie sorgen sich um Mütter und Väter, wollen wissen, was war und ist. Doch diese wollen ihre Nachkommen schützen und nicht mit dem Erlebten belasten. Dass genau dieses Schützenwollen in ein Überbehüten ausartet und die Kinder belastet, wird häufig erst nach vielen psychologischen Gesprächen und Therapien wahrgenommen.
Sprechen hilft häufig, mit Traumata besser umgehen zu können. Laut Erfahrung und wissenschaftlichen Studien übertragen sich viele Ängste auch auf die nachfolgenden, die zweiten und dritten Generationen. Und oft nimmt der Schmerz mit zeitlichem Abstand noch zu. Waren die ersten Jahrzehnte nach dem Krieg noch von Lehre, Studium Arbeit und Familie erfüllt, so stellte sich mit dem Ruhestand die Zeit des Nachdenkens und der Erinnerung ein. Der Schmerz um die verlorenen Eltern, Geschwister, Verwandten und Freunde kehrte mit Wucht zurück.
Und die Ängste kehrten zurück. Kehren in dem Maße zurück, wie sich rechte Kräfte allerorts in Europa etablieren. Kräfte die auf Hass, Rassismus und Antisemitismus setzen, die Ausländer- oder generell Fremdenfeindlichkeit nicht nur aus politischem Kalkül befeuern, sondern institutionalisieren wollen.
Sie schwiegen, um zu verdrängen, um die Albträume, die sich Nacht für Nacht in den Schlaf drängten, nicht auch die Tage beherrschen zu lassen.
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