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Willkommen im Goldenen Zeitalter!
Bald ist Bundestagswahl und für welchen Irrsinn soll man sich als Linker entscheiden?
Vor einigen Tagen habe ich meine Wahlbenachrichtigung erhalten, derzufolge ich berechtigt bin, bei der bevorstehenden Bundestagswahl zwei Stimmen abzugeben. Im Grunde ist diese turnusmäßig veranstaltete Mitbestimmungssimulation eine rundum schöne Sache. Geht alles glatt und niemand denkt zu viel nach (was erfreulicherweise bisher stets so war), sind alle zufrieden: das »demokratische Staatswesen« BRD mit mir, dem mündigen und verantwortungsvollen Bürger, und meinem Gang ins Wahllokal und ich mit dem befriedigenden Gefühl, meinen Stimmzettel erfolgreich ungültig gemacht zu haben und für die Schweinereien, die in den kommenden vier Jahren unser Leben weniger erträglich machen werden, nicht verantwortlich gemacht werden zu können. Alles in Butter also, so sollte man meinen. Sieht man einmal vom Hauptproblem ab: dem unvermeidlichen Umstand nämlich, dass nach der Wahl eine Regierung gebildet wird.
Weil ich jener Minderheit angehöre, die weiß, dass es egal ist, welche Funktionäre der demokratisch gewählten Parteien als geschäftsführende Bundesregierung am Ende die Politik machen werden, die der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) und die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sich wünschen, ist mir das Wahlergebnis aber traditionell wurscht. Die Lohnkürzungen, Preissteigerungen und Mieterhöhungen kommen so sicher wie die Verschlechterung der Gesundheitsversorgung und die Klimakatastrophe (»Goldenes Zeitalter«). Welche Parteien es sein werden, die all das befürworten, beschließen und hernach als »alternativlos« bezeichnen, spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Doch wer nun meint – man kennt die Argumente auswendig –, es ginge doch bitteschön darum, »das kleinere Übel« zu wählen, sich »konstruktiv am demokratischen Willensbildungsprozess zu beteiligen« und »das Schlimmste zu verhindern«, der hat schon das nächste Problem: Links zu wählen, wird von Wahl zu Wahl kniffliger. Denn die gewaltige Herausforderung für den Wähler besteht mittlerweile darin, unter den zweieinhalb linken Splitterparteien, die noch im Angebot sind, eine zu finden, die ihr Programm noch nicht vollständig an die Bedürfnisse des größten anzunehmenden Internettrottels angepasst hat. Das ist nicht einfach in Zeiten, in denen – damit die Neonazis nicht gewählt werden – sämtliche bürgerliche Parteien alles in ihrer Macht Stehende zu tun bereit sind, um langfristig die besseren Neonazis zu sein.
Eine Freundin von mir, überzeugte Antifaschistin und im Herzen Anarchistin (im Grunde eine jener vom Aussterben bedrohten und noch nicht zum Phrasenautomaten regredierten Intellektuellen, um die die Linkspartei sich eigentlich reißen müsste), teilte mir kürzlich mit, sie werde – sie habe sich das gründlich überlegt – nun zum ersten Mal seit langem wieder die Linkspartei wählen (nach einer zwei Jahrzehnte währenden Phase, während der sie die Partei aufgrund ihrer »nur in Floskeln sprechenden Langweiler«, ihres »windelweichen sozialdemokratischen Anpasserkurses« und ihres »vollkommen humorbefreiten Steinzeitantiimperialismus« nicht gewählt habe).
Um die Partei guten Gewissens und ohne Bauchschmerzen wählen zu können, habe sie sich allerdings in den vergangenen Jahren diverse Taktiken aneignen müssen, die ihr dazu verhelfen sollen, nicht von ihrem Wahlvorhaben abzuweichen. So habe sie sich etwa mittlerweile angewöhnt, auf den sogenannten sozialen Medien, auf denen sie aktiv ist, 90 Prozent aller Linksparteifunktionäre und -anhänger »auf Snooze« zu schalten. »So ist es halbwegs auszuhalten«, sagte die Freundin erleichtert, als wir neulich bei Kaffee und Kirschkuchen zusammensaßen. »Wenn ich diesen Leuten nicht zuhören und nichts von ihnen lesen muss, ist es viel leichter, sie zu wählen.« Eine andere Taktik von ihr bestehe darin, immer wenn sie ein Wahlplakat erblicke, rasch »in eine andere Richtung zu schauen«. Das gelinge zwar nicht immer durchgehend, aber: Auf diese Art werde sie zumindest von dem »himmelschreiend banalen Stumpfsinn« verschont, der auf diese Plakate gedruckt sei.
Dem »durchgeknallten Antisemiten«, der ausgerechnet in ihrem Wahlkreis für die Partei kandidiere, könne sie zwar nicht ihre Erststimme geben, aber: »Die Linke bekommt meine Zweitstimme, allein deswegen, weil sie gegenwärtig die einzige Partei im Bundestag ist, die nicht ausnahmslos alle abschieben will, die nicht bei drei auf den Bäumen sind. Na ja, sagen wir besser: noch nicht. Denn wenn sich der jetzt seit 30 Jahren ungebrochen anhaltende und sich seit zehn Jahren beschleunigende Rechtsruck fortsetzt, werde ich mich wohl bald auch darauf nicht mehr verlassen können.«
Conclusio: Ich bin mir nicht sicher, ob, um einer besseren Zukunft willen, nicht deutlich mehr Wahlberechtigte sich deutlich mehr Gedanken machen sollten. Sicher ist jedenfalls: Nach wie vor ist es »eine ernsthafte Schwäche der Demokratie, dass sie sich danach richten muss, was der Bürger denkt, ehe Gewissheit besteht, ob er es überhaupt tut« (Hans Kasper).
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