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»Wyssozki ist einfach ein Teil von Odessa«
In der ukrainischen Schwarzmeerstadt kämpfen Aktivisten für das Andenken an den sowjetischen Schauspieler und Sänger
Es gibt Streit in Odessa. Und er wird trotz des Kriegsrechts offen in der Hafenstadt am Schwarzen Meer ausgetragen. Auch auf der Straße und mit Einwilligung der Behörden. Leonid Schtekel, stadtbekannter Aktivist und Journalist, der sich auch schon zu Sowjetzeiten für seine kritische Haltung gegenüber den Machthabern bei diesen unbeliebt gemacht hat, ist wütend. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion haben die Behörden in der Nacht vor Silvester das Denkmal des 1980 verstorbenen Barden Wladimir Wyssozki, einer der bekanntesten Kultfiguren der Sowjetunion, abbauen lassen.
Die Aktion reiht sich ein in den anhaltenden Kampf um die Deutungshoheit in Odessa, in die Bemühungen der Behörden, die Stadt von »imperialistischen Narrativen zu lösen und zu einer modernen, kulturell unabhängigen ukrainischen Stadt zu werden«, wie die öffentlich-rechtliche Plattform »Suspilne« schreibt. Nicht alle in der Stadt teilen diese Auffassung. »Ausgehend von der Logik der ›Dekolonisierer‹ müssen wir uns von allem verabschieden, was Odessa zu einer Weltmarke gemacht hat. Einfach gesagt wird damit unsere Stadt auf null gesetzt«, kritisierte Bürgermeister Hennadij Truchanow den Eifer der Behörden. Deren Konter kam vom Chef der regionalen Militäradministration, Oleh Kiper. »Wer durch Straßen mit imperialistischen Namen schlendern möchte, kann dies in Moskau oder Ufa tun, aber nicht in Odessa«, schrieb er auf Telegram.
Ist Wyssozki Künstler oder Imperialist?
Schtekel will sich dieser Argumentation nicht anschließen. Gemeinsam mit zehn Mitstreitern demonstrierte er am 25. Januar, dem Geburtstag von Wladimir Wyssozki, vor dem Puschkin-Denkmal auf dem Primorski-Boulevard in der Innenstadt. Auf Plakaten forderte die Gruppe den Wiederaufbau des Wyssozki-Denkmals. Kurz nach Beginn der Mahnwache gesellte sich eine Gruppe von als Clowns verkleideten Jugendlichen zur Mahnwache, machte mit Jonglierbällen und kurzen Darbietungen auf sich aufmerksam. War das nun Protest gegen den Protest oder Unterstützung des Protests? Die Spaßgruppe wollte sich zu dieser Frage nicht äußern. Auch der Satz »Der Clown geht, der Zirkus bleibt«, den eine Teilnehmerin auf ein Plakat gemalt hatte, lässt sich sehr unterschiedlich interpretieren.
»Wyssozki ist einfach ein Teil von Odessa« erklärt Organisator Leonid Schtekel gegenüber dem »nd«. Mit seinen Filmen und Liedern, darunter auch »Moskwa – Odessa«, sei er der Stadt für immer im Gedächtnis geblieben. »Ich habe überhaupt nichts gegen neue Denkmäler. Aber warum das Denkmal für Wyssozki einfach abbauen?«, fragt sich Schtekel.
»Wyssozki gehört zu uns, zu unserer Vergangenheit«
Sicherlich sei das 2012 für Wyssozki gebaute Denkmal von einer fragwürdigen Person, einem russlandfreundlichen Oligarchen mit Kontakten zum russischen Geheimdienst FSB, initiiert worden, räumt Schtekel ein. Deswegen würde es vielleicht auch Sinn ergeben, über ein völlig neues Wyssozki-Denkmal nachzudenken. »Wyssozki gehört zu uns, zu unserer Vergangenheit. Ich will, dass er uns weiter in Erinnerung bleibt«, sagt Natalja zu »nd«, die in Odessa bei den städtischen Wasserwerken angestellt ist.
Auch die Polizei war bei der Veranstaltung vor Ort, aber nur zum Schutz, wie Aktivist Schtekel klarstellt. »Mahnwachen sind im Kriegsrecht erlaubt. Demonstrationen mit Redebeiträgen nicht.«
Kamin-Konzerte werden zur Kunsttherapie
Rita Kolobowa lädt jeden Monat zu besonderen Konzerten in einem Raum mit bis zu 50 Gästen ein. Am 25. Januar widmete sie das Konzert dem Geburtstag von Wladimir Wyssozki. Kolobowa legt besonderen Wert darauf, dass ihre Veranstaltungen frei von Politik bleiben. So auch dieses Mal, trotz aller Debatten in der Stadt.
Drei Stunden lang füllen die Lieder lokaler Barden den Raum, greifen immer wieder die Erinnerung an Wyssozki auf. »Musik ist stets von Bedeutung«, erklärt Rita Kolobowa »nd«. »Doch in Zeiten des Krieges ist sie mehr als das. In diesen Zeiten ist sie eine Art Therapie, die uns hilft, mit den aktuellen Schrecken umzugehen.«
Neben ihrer künstlerischen Arbeit hat Kolobowa eine Stiftung gegründet, die sich der Unterstützung von Kriegsverletzten und Traumatisierten widmet. »Was wir in der Ukraine erleben, hinterlässt tiefe Narben«, so Kolobowa. »Unsere Lieder und Gedichte bieten einen Lichtschein in der Dunkelheit. Ja, in gewisser Weise können sie eine Form der psychologischen Unterstützung sein. Für mich sind unsere Konzerte Kunsttherapie.«
Am diesem Tag herrschen am Kamin von Rita Kolobowa Lachen, Gesang und tiefgründige Gedichte. Mit diesem warmen Gefühl und der Erinnerung an Wladimir Wyssozki machen sich die Anwesenden auf den Weg nach Hause. Durch eine Stadt, die offiziell des Schauspielers und Sängers nicht mehr gedenken will.
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