Gegen den »Sozialstaatspopulismus«

Der Armutsdiskurs entwickelt sich zu einer Neiddebatte. Selbstorganisierte Armutsbetroffene wollen das ändern

Ganz einfach: Funktioniert der Sozialstaat nicht, sind Armutsbetroffene auf Spenden angewiesen.
Ganz einfach: Funktioniert der Sozialstaat nicht, sind Armutsbetroffene auf Spenden angewiesen.

Wenn Gisela Breuhaus von ihrem Leben berichtet, tut sie das kurz, knapp und relativ nüchtern. Sie hat gearbeitet, ihren Vater, ihre Kinder und ihren Ex-Mann gepflegt, gegen ihre chronische Erkrankung und wenig hilfreiche Behörden angekämpft und sich dabei unter anderem ihr »Cabrio«, einen ekletrischen Rollstuhl, erstritten. »Eigentlich ist es die Aufgabe des Staats, alle Menschen mitzunehmen und nicht auszusortieren«, schließt sie. Am Montag vertritt sie bei der Vorstellung des Schattenberichts der Nationalen Armutskonferenz jene von Armut betroffene Personen, die den Bericht verfasst haben. Die Bezeichnung »von Armut betroffen« soll klarstellen: Menschen werden oder sind arm, weil die Gesellschaft ihre Möglichkeiten zur Überwindung von Armut nicht ausschöpft.

Der Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz präsentiert einen Überblick zu Zahlen, Daten und Fakten rund um Armut und soziale Ausgrenzung in Deutschland, unterfüttert von Berichten Betroffener. »Nur wer die Lebenssituation einkommensarmer Menschen kennt, kann sie verbessern«, stellt Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch fest. Es ist der erste Bericht nach fünf Jahren. Er soll auch ausgleichen, dass der siebte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung nach dem Bruch der Ampel-Koalition nicht mehr erschienen ist.

Laut der europäischen Vergleichsstatistik EU-SILC waren im Jahr 2022 hierzulande 17,7 Millionen Menschen von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Das ist mehr als ein Fünftel der Bevölkerung, das beispielsweise übermäßig verschuldet ist, sich die Wohnkosten nicht mehr leisten kann oder kein Geld hat, um sich regelmäßig eine warme Mahlzeit zu leisten. Jede siebte Person in Deutschland war 2022 armutsgefährdet, verfügte also über weniger als ein 60 Prozent des mittleren Einkommens.

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»Armut kann jeden treffen«, so fasst es Schuch am Montag zusammen. Besonders gefährdet aber sind Alleinerziehende, Familien mit vielen Kindern, Menschen mit Behinderungen und Geflüchtete. Um gemeinsam Verantwortung zu übernehmen, sei es wichtig, die Debatte um Armut auf eine sachliche und respektvolle Basis zu stellen. Das passiere derzeit und auch im Wahlkampf zu wenig, kritisiert Schuch.

»Armut ist nicht nur ein Problem der Betroffenen, sondern der gesamten Gesellschaft«.

Marcel Fratzscher DIW

Ähnlich empfinden das die Armutsbetroffenen, die im Bericht zu Wort kommen: »Die Mittelschicht wird in ihrer Angst vor sozialem Abstieg gegen die in Armut Lebenden ausgespielt«, schreiben sie. Ein markantes Beispiel sei die Debatte um das Bürgergeld, in der Realitäten verzerrt würden.

»Wir erleben derzeit einen Sozialstaatspopulismus«, stellt auch Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) fest. Er meint damit, es werde suggeriert, der Sozialstaat sei aufgebläht und müsste gekürzt werden. Das Gegenteil sei der Fall, so Fratzscher. Sozialsysteme seien nur dann leistungsfähig, wenn es weniger Bezieher*innen gebe und Armut und Abhängigkeiten reduziert werden. Dafür brauche es eine Umgestaltung des Sozialstaats, die eine langfristige Planung ermögliche.

Dazu müsse zum Beispiel das Bürgergeld proaktiver gestaltet werden, ist Fratzscher überzeugt. Seine Einführung sei »ein Schritt in die richtige Richtung« gewesen, sagt er in Anspielung auf CDU, FDP und AfD, die die Reform laut ihrem Bundeswahlkampf rückgängig machen und einsparen wollen. Dem Schritt aus der Langzeitarbeitslosigkeit stehe nicht, wie häufig behauptet, die Faulheit der Beziehenden im Weg, sondern das fehlende Angebot des Staats, so Fratzscher.

Personen im Bürgergeld fehlt es häufig entweder an Qualifizierungen – für die Weiterbildungen erforderlich sind – sie haben gesundheitliche Probleme oder können sich aufgrund der mangelnden Daseinsvorsorge nicht um Erwerbsarbeit kümmern. Beispielsweise, weil sie mit Pflegearbeit beschäftigt sind. 800 000 von 5,5 Millionen Menschen im Bürgergeld sind darüber hinaus Aufstocker. Sie haben also bereits einen Beruf, verdienen damit aber so wenig, dass sie zusätzlich Sozialleistungen erhalten. Das seien strukturelle Probleme, die man, so Fratzscher, angehen müsse.

Das zweite große Thema sei Kinderarmut. Bei der Bekämpfung eben jener hätten die Regierungen der vergangenen 20 Jahre versagt. Kinderarmut untergrabe Bildungschancen, was wiederum zur Folge hätte, dass Armut in Deutschland im europäischen Vergleich weiterhin überproportional vererbt würde. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, brauche es eine Art Kindergrundsicherung. Über die Hälfte der Eltern, deren Kinder Anspruch auf einen Kinderzuschlag, also über das Kindergeld hinaus hätten, lösen diesen nicht ein. Die letzten Konzepte der Kindergrundsicherung des grünen Familienministeriums waren vor allem darauf ausgelegt, die Auszahlung bereits beschlossener Sozialhilfen zu vereinfachen.

»Will der Staat kein zusätzliches Geld ausgeben, könnte er auch die Freibeträge umverteilen«, schlägt Fratzscher außerdem vor. Er bezieht sich damit auf eine DIW-Studie aus dem Herbst 2024. Der Kinderfreibetrag für »Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsaufwand«, kurz BEA, den Familien mit Kindern bei ihrer Einkommensteuer geltend machen können, sei demnach sozial ungerecht. Würde er von Familien mit sehr hohen Einkommen auf ärmere Familien umverteilt, könnte das, laut Berechnungen des DIW, 3,5 Milliarden Euro freisetzen.

Um Umverteilung geht es auch Heidi Reichinnek, Vorsitzende der Gruppe Die Linke im Bundestag, in einer ersten Reaktion auf den neuen Schattenbericht. Der habe einmal mehr gezeigt: »Wir können uns diese Ungleichheit nicht mehr leisten«. Multimillionäre und Milliardäre müssten »endlich angemessen an der Finanzierung unseres Gemeinwesens« beteiligt werden.

Ein funktionaler Sozialstaat hätte im Endeffekt auch positive Folgen für die gesamte Wirtschaft, argumentiert Fratzscher. Armutsbekämpfung koste kurzfristig eine Menge Geld, spare aber langfristig viel ein – zum Beispiel im Bereich künftiger Sozialausgaben. »Armut ist nicht nur ein Problem der Betroffenen, sondern der gesamten Gesellschaft«, schlussfolgert er.

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