Ort ohne Wiederkehr: Port Arthur

Im 19. Jahrhundert entstand auf Tasmanien ein berüchtigtes Gefängnis: Heute gehört es zum Unesco-Welterbe und ist ein Magnet für Australien-Besucher

  • Saskia Guntermann und Michael Marek
  • Lesedauer: 9 Min.
Einst ein grausamer Ort: die Gefängnisanlage Port Arthur
Einst ein grausamer Ort: die Gefängnisanlage Port Arthur

Port Arthur im Südosten Tasmaniens: Es riecht nach Fish and Chips. Der kleine beschauliche Ort an der rauen Tasmansee liegt 90 Autominuten von Hobart entfernt, der Hauptstadt des australischen Bundesstaates. Während dort moderne Häuser in den blauen Himmel ragen, gibt es in Port Arthur mit seinen 250 Einwohnern vor allem Holzhäuser und alte viktorianische Gebäude. Einst galt der Ort als die Hölle auf Erden.

Von 1830 bis 1877 befand sich hier das größte Gefängnis Großbritanniens außerhalb des Mutterlandes. Zugleich galt Port Arthur als die sicherste Sträflingsstätte Australiens. Heute ist der einst gefürchtete Ort ein Freilichtmuseum und gehört seit 2010 zum Unesco-Welterbe. Ein Hotspot und die Touristenattraktion Nummer eins auf »Under down under«: 250 000 Besucher kommen jedes Jahr, um sich hier auf eine Zeitreise zu begeben.

Im Besucherzentrum wartet Liz La Trope, die als Museumsführerin arbeitet. Hier, von einer Anhöhe aus, lässt sich die gesamte riesige Anlage überblicken, die wie ein englischer Park anmutet: mit kurz geschnittenem Rasen, gepflegten Gärten und Bäumen. Dazwischen ein Puzzle aus restaurierten historischen Gebäuden und Ruinen, als hätte man überdimensionale Spielzeugbauklötze wahllos auf dem Gelände verteilt. Welch ein Gegensatz zum immer roten Outback, denken wir.

Unten, direkt am Wasser, erkennt man das ehemalige Hauptgebäude mit seinem vierstöckigen Zellenblock. »Es besteht aus Ziegelsteinen, die Zellen wurden aus Sandstein gebaut«, erklärt La Trope mit ihrer energischen Stimme. »Eine Zelle war 1,30 Meter breit und 2,10 Meter lang.« Beklemmend eng, wenn man bedenkt, dass die deportierten Strafgefangenen oft bis zu ihrem Lebensende darin ausharren mussten. Sie schliefen in Hängematten, die tagsüber aufgerollt und ordentlich verstaut werden mussten. Dafür gab es ein Regal, in dem auch Napf, Löffel und Becher ihren Platz fanden. »Mehr Besitz gab es nicht.«

Die weitläufige Gefängnisanlage zieht sich über ein hügeliges Gelände und wird U-förmig von einer Meeresbucht begrenzt. Große Zypressen stehen Wache vor den Ruinen, Schwarzdrosseln zwitschern und suchen nach Futter. Die britischen Kolonialisten hatten sie aus ihrer Heimat mitgebracht, ebenso wie die Pflanzen für den Rosengarten des Kommandeurs.

Doch der Ort war alles andere als eine Idylle. Mit Grausen dachten die Verurteilten an jenes Fleckchen Erde, das weit entfernt von England liegt und für sie eine Reise ohne Rückfahrschein bedeutete. Insgesamt wurden 163 000 »Convicts« nach Australien deportiert, davon 73 000 allein nach Tasmanien, sagt La Trope. »Nach Port Arthur kamen die Sträflinge mit den höchsten Sicherheitsstufen, also fünf, sechs und sieben. Port Arthur war ein Hochsicherheitsgefängnis!«

Im Besucherzentrum wird jedem Gast eine Spielkarte in die Hand gedrückt. Damit nimmt man an der »Lottery of Life« teil und kann den Spuren eines einzelnen Gefangenen folgen: von seiner Deportation aus England bis zu seinem Tod auf Tasmanien. Die Idee dieser »Lotterie des Lebens«: die »große« Geschichte anschaulich zu machen und die Vergangenheit Port Arthurs anhand von Einzelschicksalen zu erzählen. Die Besucher, vornehmlich vom australischen Festland, aber auch Touristen aus Asien, Europa und den USA, sind begeistert. Überall sieht man Familien, Paare und größere Touristengruppen mit ihren Spielkarten in der Hand durch das Gelände streifen.

Wer das Gefängnis überlebte, wurde Siedler auf Tasmanien.

Unsere »Pik 7« erzählt von Thomas Walker, der 14 Jahre seines Lebens in Port Arthur verbrachte. In dieser Zeit versuchte er 22-mal zu fliehen. Bei seinem letzten Ausbruch hatte er das kleine Walfangboot des Kommandeurs gestohlen. Walker war Seemann und kannte sich aus. Mit sieben anderen Männern ruderte er die Küste Tasmaniens entlang nach Sarah Island. Dort gab es nichts, nur undurchdringlichen Regenwald. Also drehten sie um und landeten im südlichen Teil von New South Wales, eine unglaubliche Reise über das offene Meer und die Bass-Straße, jene Meerenge, die Tasmanien vom australischen Festland trennt. Dort wurde Walker angeschossen und gefangen genommen. Schließlich starb er an seinen Verletzungen.

Auf Sandwegen geht es zwischen den teils als Ruinen erhaltenen, teils rekonstruierten Gebäuden entlang, und es scheint, als sei man nicht weit entfernt von England. Per Audioguide erfährt man, dass es sieben Kategorien von Sträflingen gab: Je höher die Klassifizierung, desto schlimmer die Vergehen. Diese Hierarchisierung spiegelte sich auch in den Gebäuden wider: Die einfachen »Convicts« waren im Erdgeschoss untergebracht – ihre Kleidung war blau oder grau. Je mehr man auf dem »Kerbholz« hatte, desto mehr fiel man in Ungnade und wurde nach oben verlegt. Für einen Gefangenen der Stufe sieben galten maximale Sicherheitsvorkehrungen, Name und Individualität wurden getilgt. In ihrer Gefängniskleidung ähnelten diese Sträflinge Harlekinen: ein Hosenbein blau, das andere grau – ebenso die Ärmel. Die verdrehte Farbigkeit sollte an die moralische Verdrehung des Trägers erinnern und signalisierte: Achtung, Schwerbrecher!

»Die Idee war, aus den Sträflingen bessere Menschen zu machen«, so Historikerin La Trope. »Die privilegierten Gefangenen hatten einen eigenen Schlafsaal und brauchten keine Fußeisen zu tragen – anders als die schweren Jungs. Sträflinge der Kategorie sieben hatten 18 Kilogramm schwere Fußeisen.«

Dieser vierstöckige Zellenblock war das Herz von Port Arthur – ein gelbliches, lang gezogenes Gebäude. Wo einst 484 Gefangene lebten, stehen nur noch die (renovierten) Außenmauern, die wie ein steinernes Skelett an die Doing Time erinnern – die Zeit, die die Häftlinge im Gefängnis einsaßen. Altehrwürdig erscheint der schöne viktorianische Bau von außen, wäre er eine Universität.

Die meisten Strafgefangenen waren junge Arbeiter zwischen 19 und 25 Jahren, die zum Aufbau des Landes gebraucht wurden. Sogar Kinder wurden hier verwahrt: Der jüngste Häftling war neuneinhalb Jahre alt. Auch deshalb gehört das Gefängnis zum Unesco-Welterbe: Port Arthur hatte eines der ersten Jugendgefängnisse des British Empire.

Welches Interesse hatte England an diesem Ort, der 16 000 Kilometer von Europa entfernt liegt, aber nur läppische 2700 Kilometer von der Antarktis? Liz La Trope fordert uns auf, sich die Situation England Anfang des 19. Jahrhunderts zu vergegenwärtigen: Die industrielle Revolution forderte ihren Tribut. Die soziale Verelendung breiter Bevölkerungsschichten führte zu mehr Kriminalität. Die Wälder wurden abgeholzt, um die Dampfmaschinen zu beheizen. Doch wo Holz hernehmen, wenn es im eigenen Land keines mehr gab? Wie verlockend war da die Idee, so La Trope, »Tasmaniens üppigen Baumbestand zu roden, um Englands Bedarf zu decken«. Schon für ein gestohlenes Brot wurde man nach Tasmanien geschickt. Überdies ließen sich straffällig gewordene junge Männer als billige Arbeiter in die ferne Kolonie verbannen, und auch politisch Andersdenkende wurden nach Tasmanien deportiert – vor allem aus Irland. Eine »Win-win-Situation« für das Empire.

Doch mit der Aufklärung kamen neue Ideen auch nach Port Arthur. 1848 wurde die Isolationshaft eingeführt: Statt die Gefangenen bei Vergehen oder Fluchtversuchen auszupeitschen, unterwarf man sie von nun ab der »stillen Strafe«: Man ging davon aus, dass körperliche Züchtigung die Häftlinge nur stärker mache, psychische sie dagegen schwäche.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Zur Isolationshaft gehörte, dass die Häftlinge in winzige Einzelzellen gesperrt wurden; sie hatten keinerlei Kontakt untereinander und durften nur für eine Stunde am Tag mit Kapuzen bedeckt aus ihren Zellen ohne Fenster. Aber noch wichtiger war: Sie durften nicht sprechen, zu jeder Tages- und Nachtzeit sollte absolute Stille herrschen. »Totale Isolation«, so La Trope.

Von den Wächtern wurden die Sträflinge nicht mit ihren Namen, sondern mit ihrer Zellennummer angesprochen, und sie waren angehalten, über Bibelstudium und innere Einkehr Einsicht in ihre Taten zu gewinnen, um zu besseren Menschen zu werden. »Die Häftlinge mussten in ihren Zellen arbeiten: ruhige Arbeiten wie Buchbinden, Besenbinden oder Korbflechten.« Sogar beim obligatorischen Kirchenbesuch wurden die Gefangenen einzeln in die Kapelle geführt, in der sich Kabinen befanden, die den Blick- und Körperkontakt mit anderen Insassen unterbanden. Viele wurden in den Wahnsinn getrieben, hinter den »meterdicken Mauern konnte niemand die Schreie der Sträflinge hören«.

Als die Historikerin uns zum Ufer der kleinen Bucht führt, wird die exponierte Lage des Gefängnisses deutlich – am Ende einer Halbinsel, die von der Tasmansee umschlossen wird. Der Zugang ist lediglich über das Eaglehawk Neck möglich. Quer über diese schmale Landbrücke wurde ein Zaun gezogen. Außerdem hatte man Hunde an Pflöcken angebunden, die unverzüglich anschlugen, sobald ein Häftling zu entkommen versuchte. Eine stählerne Skulptur zeigt heute noch einen wild bellenden Bullmastiff – angekettet vor seiner Hütte.

Die exponierte Lage an der rauen tasmanischen See trug ihr Übriges bei. Fast niemand der Gefangenen konnte schwimmen. Das Wasser war kalt, es gab Haie, und man hatte Geschichten von gefährlichen Wasserwesen in Umlauf gesetzt, um Fluchtversuche über das offene Meer im Keim zu ersticken.

Als es Abend wird und wir auf dem Rückweg sind, hören wir ein wildes Kreischen – vielleicht ein Tasmanischer Teufel, das größte fleischfressende Beuteltier der Welt? Seine Beißkraft ist ungeheuerlich und in Relation zur Körpergröße etwa so stark wie die eines Tigers.

Der Beutelteufel lebte einst in ganz Australien, heute kommt er nur noch auf Tasmanien vor; er frisst Insekten, Kleintiere – vor allem aber Aas. Wenn er läuft, dann scheint es, als könne er den Schädel kaum gerade halten. Tasmanische Teufel sind hyperaktiv und extrem neugierig. Ein solches Tier in freier Wildbahn zu Gesicht zu bekommen, sei eher unwahrscheinlich, sagt Liz La Trope trocken. Die bis zu zwölf Kilogramm schweren und bis zu 60 Zentimeter langen Raubbeutler sind bevorzugt im Dunkeln unterwegs und mit ihrem schwarzen Fell nachts kaum auszumachen. Ihr aggressiv klingendes heiseres Fauchen brachte ihnen einen schlechten Ruf ein.

Die Europäer und auch die »Convicts« von Port Arthur ängstigten sich vor dem Beutelteufel, als sie das wilde, grüne Tasmanien erkundeten und nachts ein wildes Kreischen vernahmen. Als Christen glaubten sie, den Herrn der Finsternis höchstpersönlich zu hören. Doch tatsächlich war es nur der kleine Beutelteufel, der nach Sonnenuntergang auf Nahrungssuche war. Auch die britischen Kolonialisten fürchteten sich vor dem Kreischen der Tasmanischen Teufel und betrachteten sie fälschlicherweise als lästige Hühnerdiebe, denen mit Fallen und Gift nachgestellt wurde – mit dem Ergebnis, dass sie die Spezies fast ausgerottet hatten.

Was wurde aus den verurteilten Häftlingen? In Hochzeiten lebten bis zu 1200 Gefangene in Port Arthur; insgesamt waren hier zwischen 1830 und 1853 rund 12 500 Häftlinge untergebracht. 1853 wurden die Sträflingstransporte eingestellt. Danach kamen keine neuen Gefangenen mehr nach Tasmanien; 1877 schließlich wurde das Gefängnis geschlossen. Die meisten Häftlinge starben vor ihrer Entlassung. Wenn sie überlebten, wurden sie Siedler.

Und so ist die Geschichte Port Arthurs und Tasmaniens untrennbar mit den Sträflingen verbunden: Viele der heutigen »Tassis«, wie sich die Einwohner Tasmaniens stolz nennen, haben Wurzeln in der ganzen Welt. Denn die aus dem British Empire Verbannten kamen aus England, Irland, Schottland, aber auch aus Indien, Kanada und der Karibik. Auch ihre Familie führe »Convicts« im Stammbaum, erzählt Liz La Trope am Ende der Führung.

Die Aborigines wurden vom Ansturm der Siedler überrannt: Unterdrückung und Tod, Ausgrenzung, Ghettoisierung und kulturelle Entwurzelung folgten für die Ureinwohner nach der Ankunft des »weißen Mannes« – auch hier auf Tasmanien.

Tipps
  • Öffnungszeiten: Täglich 10 bis 17 Uhr (nur Weihnachten geschlossen);
    Tickets schließen eine geführte Tour (Dauer ca. 40 Minuten) sowie eine 25-minütige Bootstour ein; Erwachsene etwa 25 Euro, Kinder 12 Euro.
  • Internet: portarthur.org.au
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.