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- Ferat Koçak in Berlin
Linke Kampagne in Neukölln: An 80 000 Türen
In Neukölln kämpft der Linke Ferat Koçak um das Bundestagsdirektmandat – seine Kampagne hat das Zeug, die Partei zu verändern
Trotz der düsteren Großwetterlage wirken Vincent Bababoutilabo und My Hanh Phan Thi regelrecht euphorisiert, als sie von ihrem politischen Projekt zu sprechen beginnen – dem Wahlkampf. Dabei hatten die beiden mit Parteipolitik bis vor kurzem wenig am Hut.
Der 37-jährige Bababoutilabo ist Jazzmusiker und stammt – wie er es ausdrückt – aus »einer klassischen Arbeiterfamilie: Mutter Physiotherapeutin, Vater im Hifi-Geschäft, Stiefvater Bauarbeiter aus Burkina Faso«. Die 27-jährige Phan Thi wuchs als Tochter vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen in Halle auf, wurde als Jugendliche dann aber vor allem in einem westdeutschen Dorf politisiert, in dem Menschen mit Migrationsgeschichte praktisch inexistent waren. »Das war wirklich krasser Rassismus. Subtiler als in Halle, aber letztlich noch schlimmer.«
Aus Eigeninteresse fingen die beiden früh an, sich gesellschaftlich zu engagieren. Bababoutilabo in Initiativen gegen Polizeigewalt, Phan Thi in der antirassistischen Bildungsarbeit. Doch jetzt stecken die zwei plötzlich tief drinnen in der Parteipolitik. Sie gehören zum »Team Ferat«, das den Abgeordneten des Berliner Landesparlaments über ein Direktmandat in den Bundestag hieven möchte.
Koçak, der vor Jahren Opfer eines rechten Anschlags wurde und seitdem vergeblich Aufklärung über die Verbindungen zwischen Nazigruppen und Berliner Polizeiapparat fordert, ist in Neukölln zwar bekannt wie ein bunter Hund. Doch dass er den Wahlkreis erobern könnte, schien bis vor einigen Wochen komplett ausgeschlossen. Das studentisch geprägte Nord-Neukölln macht nur einen kleinen Teil des Wahlkreises aus, und der Abstand bei den letzten Wahlen war groß: 2021 fuhr der SPD-Kandidat Hakan Demir ziemlich genau doppelt so viele Erststimmen ein wie seine damalige Konkurrentin von der Linkspartei.
Phan Thi und Bababoutilabo zeigen sich von solchen Einwänden wenig beeindruckt. Sie haben das Gefühl, gemeinsam eine Lawine in Gang gesetzt zu haben. Für den Haustürwahlkampf kommendes Wochenende gibt es mittlerweile mehr als 800 Anmeldungen. »Und es sind längst nicht mehr nur Parteimitglieder, die sich bei den Aktionstagen engagieren. Die Leute kommen teilweise aus Städten, die mehrere Kilometer entfernt sind. Aus Hannover, aus Stuttgart«, berichtet Phan Thi. Und natürlich springe diese Stimmung auch an den Haustüren über.
Das Beispiel von Nguyen
Die Kampagne von Koçak, der mit seinem basisorientierten Ansatz auch in der Berliner Linksfraktion regelmäßig aneckte, orientiert sich am Beispiel Nam Duy Nguyens. Der 1996 geborene Sohn vietnamesischer Stahlarbeiter holte bei den sächsischen Landtagswahlen im vergangenen September völlig überraschend den Direktwahlkreis Leipzig 1 und sicherte der kriselnden Linken damit via Grundmandatsklausel den Wiedereinzug ins Parlament. Auch Nguyens Kampagne beruhte auf Zehntausenden von Haustürgesprächen, bei denen die Menschen von einer klassenorientierten und antirassistischen Politik überzeugt werden sollten. Unter dem Motto »Niemals alleine, immer gemeinsam« warb man für niedrigere Mieten, bessere Löhne, Solidarität und vor allem: Selbstorganisierung.
Dieser Aspekt sei auch für ihre Kampagne zentral, erläutert die Studentin Phan Thi. »Für uns ist wichtig, dass wir keine leeren Versprechungen machen. Zum Beispiel, dass wir nicht behaupten, für die Menschen würde sich etwas Grundlegendes ändern, wenn Ferat im Bundestag säße. Für uns entscheidend ist ein ganz anderer Satz, nämlich: ›Du bist nicht allein mit deinem Problem. An anderen Haustüren haben uns die Leute ganz Ähnliches erzählt.‹«
In Berlins größtem Armutsbezirk Neukölln würden die Gespräche eigentlich immer um dieselben Probleme kreisen, berichtet die 27-Jährige. Hohe Mieten, vollgemüllte Straßen, der immer unpünktlichere öffentliche Nahverkehr, zu niedrige Löhne. Phan Thi fügt hinzu: »Es ist wichtig, zu vermitteln, dass es wirkliche Veränderung nur dann geben kann, wenn wir uns zusammentun und gemeinsam aktiv werden.« Es ist nicht zu überhören: Der Neuköllner Kampagne geht es nicht allein um ein Direktmandat oder den linken Wiedereinzug in den Bundestag.
Erfolgsmodell Gehälterbegrenzung
Von außen betrachtet konnte man in den letzten Monaten den Eindruck haben, das Schicksal der Linken sei besiegelt. Mandatsträger*innen traten öffentlichkeitswirksam aus, erste Meinungsforschungsinstitute führten die Partei gar nicht mehr gesondert auf, und die Entscheidung der Linken, ihr Überleben über die »Silberlocken«-Kampagne an Gesichter der 1990er Jahre zu knüpfen, sorgte auch nicht unbedingt für Aufbruchsstimmung.
Doch die Lage an der Basis hat sich schon länger von der Außenwahrnehmung entkoppelt. Seit dem Bruch mit Sahra Wagenknecht Ende 2023 sind mehr als 15 000 Menschen in die Partei neu eingetreten – die meisten von ihnen Jüngere, die sich eher für Aktivismus als für Sitzungen interessieren. Zudem wird die Linke in Anbetracht der politischen Entwicklungen plötzlich auch für jene interessant, die sich vor kurzem bei den Grünen engagierten oder nicht weiter für Parteipolitik interessierten.
In gewisser Hinsicht ist Bababoutilabo selbst so ein Fall. Als er vor zwei Jahren Vater geworden sei, erzählt er, habe er gemerkt, dass bestimmte Formen des Engagements für ihn nicht mehr funktionierten. Vor allem aber habe er das Gefühl bekommen, dass der Rechtsruck allmählich zu einer existenziellen Bedrohung werde. Mit der Parteipolitik tut sich der Musiker, der mit seiner Band »sanfte Lieder zu brutalen Themen macht«, wie er es leicht selbstironisch formuliert, immer noch recht schwer. »Die ersten Erfahrungen mit dem Apparat fand ich schon eher abstoßend«, sagt er. »Es hat mich überrascht, wie wenig sich Abgeordnete an Entscheidungen der Mitgliedschaft gebunden fühlen.«
In keinem anderen Berliner Bezirk hat die Linke so viele Mitglieder dazu gewonnen wie in Neukölln.
Aber vom eigenen Kandidaten ist er umso überzeugter. »Bei Ferat bin ich mir sicher, dass er auch im Bundestag seine Positionen nicht aufgibt.« Phan Thi stimmt zu: »Was die Leute in allen Gesprächen sagen, ist, dass sie Ferat vertrauen.« Das habe auch mit Koçaks Entscheidung zu tun, sein Gehalt auf 2500 Euro zu begrenzen und den Rest an einen Sozialfonds zu spenden. »Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass man über Ferats Sozialsprechstunde in Notlagen auch finanzielle Hilfe bekommen kann. Aber noch wichtiger als das ist sein Statement: 'Hohe Gehälter führen zu abgehobener Politik.'«
Sich verletzlich machen
Auf die Frage, wie es sich anfühle, an fremden Haustüren zu klingeln, berichtet Phan Thi, dass sie immer noch immer ein bisschen Angst habe. »Nicht nur, weil ich nicht weiß, wie jemand auf mich reagiert, sondern auch, weil es aufregend ist, mit wildfremden Personen über extrem persönliche Dinge zu sprechen.«
Bababoutilabo und Phan Thi verwenden bei dem Thema denselben Begriff: Vulnerabilität, also Verletzlichkeit. Wer in den Hochhaussiedlungen das Gespräch mit fremden Menschen sucht, muss mit allem rechnen: existenzielle Not, Aggression, Beschimpfungen. Viele Menschen fühlten sich komplett im Stich gelassen und hätten jede Vorstellung davon verloren, wie sich etwas ändern könne, erzählt Phan Thi. »Wenn man allerdings ein bisschen nachfragt, fallen ihnen doch auch immer Sachen ein. Diese Gespräche sind echt herausfordernd.«
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Trotzdem glänzen Bababoutilabo die Augen, als er von eigenen Gesprächserfahrungen erzählt: »Mein erster Haustüreinsatz vor ein paar Wochen war für mich ohne Übertreibung die wichtigste politische Erfahrung der letzten zehn Jahre. Ich war in Südneukölln in einer Siedlung unterwegs, in der rechtsextreme Parolen an den Häuserwänden standen und Autos mit 88-Nummernschilder herumfuhren. Bei mir ist natürlich sofort der antirassistische Radar angegangen. Und an den Haustüren ist mir auch tatsächlich mehr Rassismus begegnet als sonst in meinem Alltag.« Aber bei den Gesprächen sei es ihm doch fast immer gelungen, sein Gegenüber von einer anderen Meinung zu überzeugen. »Eine Frau fing mit dem Spruch an, alle Migranten müssten kastriert werden, und hat uns am Ende eine Wahlzusage gegeben. Für Ferat – als Migranten.«
Gelungen sei das wohl, weil er die Frau bei ihrer Lebensrealität gepackt habe. »Sie war Pflegerin, und ich habe erzählt, dass meine Mutter Physiotherapeutin ist. Ich hab gefragt, ob nicht mindestens die Hälfte ihrer Kolleginnen migrantisch ist. Das Gespräch hat sich dann schnell in eine andere Richtung entwickelt. Wir sind auf die Leute zu sprechen gekommen, die wirklich etwas mit ihren Problemen zu tun haben: die Leute, die ihre Miete erhöhen oder ihre Arbeit schlecht entlohnen.«
Der Musiker lächelt sanft. Ihm sei schon bewusst, dass solche Gespräche kein Allheilmittel gegen den Rassismus seien. »Wenn wir weg sind, gehen die Menschen zurück in ihre Telegram-Channels, wo sie mit rassistischen Botschaften bombardiert werden.« Aber es sei zumindest ein Anfang. Denn das Grundproblem sei doch der Zerfall von Sozialstrukturen. »Wenn ich ältere Frauen gefragt habe, was sie mit ›wachsender Unsicherheit‹ meinen, ging es immer sofort um fehlende Infrastruktur. Sie haben zum Beispiel erzählt, dass es früher ein Café gab, wo sich alte Leute treffen konnten. Und dass das wegen der Kürzungen dicht machen musste.« Für Bababoutilabo handelt es sich um eine Grunderkenntnis der abolitionistischen Bewegung, in der er lange aktiv war und die für einen Abbau der Polizeiapparate kämpft: »Sicherheit entsteht nicht durch Polizei, sondern durch soziale Beziehungen und gegenseitige Verantwortung.«
Dass es gilt, wieder sozialen Zusammenhalt zu schaffen, betont auch Phan Thi. »Wir machen nach den Gesprächen immer eine Auswertung mit den Aktiven. Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen dort war, dass uns alle mehr eint, als uns trennt. Die Erkenntnis möchten wir an den Haustüren herauskitzeln.«
Aber was passiert, wenn es am 23. Februar doch nicht klappt? Phan Thi denkt nicht lang nach: »Ich glaube wirklich, dass es klappt, wenn wir in den letzten 3 Wochen so weitermachen wie bisher. Außerdem sind die Kandidaten von SPD und Grünen über ihre Landeslisten abgesichert. Nicht nur für Linke ist eine Erststimme für Ferat deshalb eine echte Option.«
Für einen Erfolg hält Phan Thi die Kampagne schon jetzt – mehr als 500 Leute seien durch den Wahlkampf in die Neuköllner Linke eingetreten. Und weitermachen müsse man sowieso. »Unabhängig davon, ob Ferat im Parlament sitzt oder nicht.«
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