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Waffenpause im Gazastreifen: Rückkehr ins Trümmerfeld
Palästinenser nutzen die Waffenpause zur Heimkehr in den zerstörten Gazastreifen
Der Gazastreifen ist in Bewegung. Seit Beginn des Waffenstillstands zwischen Israel und der Hamas haben viele Familien die Zeltstädte im Süden des Gebiets verlassen, um in den Norden zurückzukehren. Lange Kolonnen von Fahrzeugen, Karren und zu Fuß nach Norden marschierender Familien schieben sich tagsüber von den Stränden nahe der ägyptischen Grenze in Richtung Rafah, dort wo die Zerstörung noch am geringsten ist.
Weil aber auch hier über 80 Prozent der Häuser nur noch ein staubiger Trümmerhaufen sind, kehren viele am Abend wieder zurück in ihre Zelte. Noch ernüchternder ist die Lage nördlich des sogenannten Netzarim-Korridors, der Nordgaza über Monate von der Außenwelt abschottete. In dem von der israelischen Armee angelegten bis zu acht Kilometer breiten Streifen steht kein einziges intaktes Haus mehr.
In Gaza geht die Angst vor ethnischer Säuberung um
Auf ihrem Weg werden die Menschen von ägyptischen und US-amerikanischen Sicherheitsleuten kontrolliert. Die wollen Hamas-Mitglieder und Waffen finden. Doch viele Rückkehrer sind buchstäblich mit dem unterwegs, was sie mit ihren Händen tragen können.
Nachdem US-Präsident Donald Trump in der vergangenen Woche seinen Wunsch bekräftigte, die Palästinenser aus dem Gazastreifen sollten von Ägypten und Jordanien aufgenommen werden, geht die Angst um. Wird die von Israels rechten Nationalisten ganz offen propagierte ethnische Säuberung des Gazastreifens doch noch stattfinden?
Schon jetzt stehen viele Familien täglich vor kaum zu lösenden Aufgaben. Viele Straßen in Rafah sind wegen nicht explodierter Munition oder Trümmerbergen nur im Schritttempo befahrbar oder nicht mehr existent. Die Bevölkerung reagiert auf die Lage mit beeindruckender Solidarität.
Ganze Stadtviertel sind völlig zerstört
Der Landwirt Abd Al-Sattari hat mit seiner Familie fünf Monate lang in einem aus einer Plastikplane, Holzlatten und ein paar Nägeln zusammengehalten Zelt in Al Mawasi gelebt und nun eine ähnliche Behausung in Rafah gebaut. »Während der Herbststürme mussten wir die Plastikplanen in Al Mawasi täglich neu aufbauen«, beschreibt der 53-Jährige am Telefon den Alltag im Flüchtlingslager. Kurz vor Inkrafttreten des Waffenstillstands hat sich Al-Sattari mit seinem Sohn Mohamed auf den Weg nach Rafah gemacht. Die beiden wollten zunächst nur schauen, ob eines der beiden Häuser der Familie noch bewohnbar ist. »Oder ob wir zumindest ein Zelt auf den Grundstücken aufstellen können, um den Wiederaufbau zu planen.« Mittlerweile haben sie damit begonnen, die Trümmer wegzuräumen. »Teilweise mit den bloßen Händen«, sagt Mohamed Al-Sattari.
In ihrer Nachbarschaft Shaboura ist kaum noch ein Haus intakt. »Eine Woche dauerte es, bis wir mit unseren Nachbarn sogar kleinste Flächen von den Trümmern räumen konnte, um zumindest mehrere Nächte zu Hause verbringen zu können. Mohamed Al-Sattari hatte in Erwartung der völligen Zerstörung seine Frau und fünf Kinder im Südwesten des Gazastreifens zurückgelassen. «Das Rafah, in dem ich und meine Kinder aufgewachsen sind, gibt es nicht mehr», sagt er. «Meiner Frau musste ich schweren Herzens sagen, dass wir erst einmal nicht zurückkehren können. Die sitzt mit ihren Schwestern und fünf unserer sechs Kinder auf gepackten Koffern. Sie hält es in Al Mawasi nicht mehr aus. Aber es gibt nichts, wohin wir zurückkehren können.»
Überleben ist ein Sieg gegen die Besatzer
Dennoch, außerhalb des Gazastreifens zu leben, ist für kaum jemanden vorstellbar. «Unsere Rückkehr in den Norden, dort wo jüdische Siedlungen entstehen sollten, ist schon ein Akt des Widerstands», sagt Mohamed Daoud, mit dem «nd» seit Wochen in Kontakt steht. Der Landwirt ist mit seinen drei Kindern und seiner Frau nach Jabalia zurückgekehrt. «Ins Nichts», wie er sagt. «Selbst meine Felder wurden von Panzern zerstört. Aber dann fangen wir eben wieder bei null an.»
Wer Gaza zukünftig regieren soll, weiß hier niemand. Kritische Stimmen gegen die kompromisslose Hamas-Strategie gibt es durchaus. «Wo sind die schweren Räumgeräte?», fragt ein Bewohner von Jabalia einen Journalisten des Nachrichtensenders Al Jazeera. Doch einen innerpalästinensischen Konflikt will niemand. Mohamed Daoud sagt am Telefon, was wohl viele in Nordgaza denken: «Dass wir überhaupt noch am Leben sind und hier leben, ist schon ein Sieg gegen die Besatzer. Und Motivation neu anzufangen.» Im Hintergrund sind die Geräusche der Schaufeln von Räumtrupps zu hören, die in den Trümmern im Einsatz sind.
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