Wenn Klassentrennung en woke ist

Wer die Ignoranz des linksliberalen Bürgertums verstehen will, sollte Kinderbücher lesen

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.
Auch international ein Markenartikel: Conni ist eine der bekanntesten deutschen Kinderbuchfiguren.
Auch international ein Markenartikel: Conni ist eine der bekanntesten deutschen Kinderbuchfiguren.

Es ist eine grausame Kurzgeschichte. Und dass sie möglich, ja, wahr zu sein scheint, macht die Sache noch schlimmer. Es geht darin um einen Achtjährigen, der seinen Alltag beschreibt. Aus Sicht von außen ist das ein deprimierendes Leben. Der Vater: als Lkw-Fahrer ständig auf Tour. Die Mutter: Man ahnt, dass sie Alkoholikerin ist und sich zu Hause prostituiert. Wenn sie »Besuch« hatte, gibt sie ihren Kindern Geld fürs Mittagessen. Schnürsenkel für die Schuhe, warme Kleidung im Winter? Fehlanzeige. »Die anderen Kinder dürfen nicht mir spielen. Ich weiß nicht, warum. Sie wissen es auch nicht.« Aber die Leser wissen es: »Jürgen Körner, 8 Jahre, 2. Schuljahr« (so der Titel von Susanne Kilians Story) wird der soziale Aufstieg verwehrt bleiben.

Diese bedrückende Geschichte findet sich in »Geh und spiel mit dem Riesen«, dem ersten »Jahrbuch der Kinderliteratur«, das von dem damals neu gegründeten Verlag Beltz & Gelberg veröffentlicht wurde. Dieser Sammelband gewann den »Deutschen Jugendbuchpreis ’72«, steht vorne drauf.

Das waren andere Zeiten. Mit der Reformpädagogik der späten 60er und frühen 70er entstand auch eine neue Kinderliteratur. Grausamkeit hatte es schon vorher in Kinderbüchern gegeben. Viele Märchen der Gebrüder Grimm möchte man sich nicht originalgetreu verfilmt vorstellen – Quentin Tarantino hätte bestimmt seinen Spaß. Aber diese neue deutsche Grausamkeit war anderer Natur. Sie speiste sich aus der Wirklichkeit. Behütet aufgewachsene Mittelschichtkinder erhielten mit einem Mal Einblicke in eine Welt, die mit Reihenhausidylle nichts zu tun hatte. Die orangefarbenen Bücher von Beltz & Gelberg, aber auch Kinderserien wie die »Rappelkiste« oder »Denkste« zeigten, was hinter den Türen von Sozialwohnungen geschah, unter welchen Bedingungen »Gastarbeiter« (wie man Migranten damals nannte) lebten und was es bedeutete, in einem reichen Land arm zu sein.

Das war oft verdammt harte Kost. Doch es schärfte das soziale Bewusstsein. Man wurde sensibilisiert für die bisweilen brutalen gesellschaftlichen Unterschiede, die es in der Wirtschaftswunder-Bundesrepublik auch in Zeiten der Vollbeschäftigung gab. So wirkte Kinderliteratur aufklärend.

Aus und vorbei! Das Gros der heutigen Kinder- und Jugendbücher geht nicht mehr dorthin, wo die sogenannten Schmuddelkinder spielen. Das überrascht zunächst, scheint doch die Woke-Bewegung gerade in Kinderbuchverlagen über eine starke Basis zu verfügen. Zum Beispiel im Carlsen-Verlag. Dort wird seit 1992 die als pädagogisch wertvoll geltende Buch- und Büchleinreihe »Conni« veröffentlicht. Sie schildert das Leben eines Mädchens vom Kindergarten bis zur Pubertät.

Vordergründig ist die Reihe auf der Höhe der Zeit. Stolz betont der Verlag, Conni habe »ein sehr diverses Freundschaftsumfeld«. In ihrer Kita gibt es Kinder unterschiedlicher Herkunft. Der Vater von Laura stammt aus Ghana, die Eltern von Son sind aus Vietnam. Semire hat wie Emir türkische Wurzeln. International geht es auch beim Kita-Sommerfest zu. Da werden im »1001-Nacht-Zelt« orientalische Speisen wie Couscous serviert – Multikulti funktionierte kulinarisch schon immer am besten.

Doch bei genauerem Hinsehen bekommt das schöne bunte Bild schmutzige Risse. Die Mutter eines muslimischen Kindes trägt natürlich Kopftuch. Ein Klischee, das in deutschen Kinderbüchern konsequent durchexerziert wird. Das ist zum einen rassistisch (weil es suggeriert, dass alle muslimischen Frauen per se Kopftuch tragen) und zum anderen frauenfeindlich und reaktionär. Deutschen Kinderbuchautorinnen scheint entgangen zu sein, dass ihre Geschlechtsgenossinnen im Nahen Osten teilweise unter Gefährdung ihres Lebens (wie im Iran) das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung bekämpfen.

Die diverse Welt ist nur Fassadenmalerei. Da gibt es ein Kitakind namens Alena, das im Rollstuhl sitzt. Damit ist dem Inklusionsgedanken Genüge getan. Ein eigenständiger Handlungsstrang entwickelt sich daraus nicht. Emir und Co. sind nur Staffage. Sie dienen als ethnische Deko, die Toleranz und Offenheit signalisieren soll. Dass Vielfalt nur Kulisse ist, wird deutlich, sobald Conni die Räumlichkeiten von Kindergarten und Schule verlässt. Dann offenbart sich eine Welt, die biodeutscher kaum sein könnte. Hier sind Geldnöte ein Fremdwort. Wenn eingekauft wird, sind die Taschen danach proppenvoll. Denn Connis Mutter ist Kinderärztin, der Vater Ingenieur. Konflikte entstehen allenfalls dadurch, dass Mama zu oft in ihr Handy vertieft ist, anstatt ihrer Tochter zu lauschen.

Die Familie zählt zur oberen Mittelschicht. Eine Geschichte heißt »Conni fährt Ski«. Damit gehört sie zu jenen zehn Prozent der Deutschen, die sich Ferien auf der Piste noch leisten können. Der regelmäßige Urlaub im Schnee gilt als Selbstverständlichkeit (»sie will im nächsten Winter unbedingt wieder Ski fahren«). Die Autorinnen setzen voraus, dass auch die Leserschaft über die nötigen Scheine für den immer teurer werdenden Wintersport verfügt. Ja, das Geld reicht sogar noch für ein eigenes Pony – nachzulesen in »Das große Conni-Pferdebuch«.

Wem man nicht auf der Koppel oder der Piste begegnet, ist Semire. Und den ersten Kuss bekommt Conni natürlich nicht von Emir, sondern von Phillip. Dessen Vater plant, mit ihm in die Schweiz zu ziehen. Vermutlich besitzt er dort bereits ein Chalet. Wohlhabende Menschen bleiben unter sich.

Über die weniger Begüterten werden in deutschen Kinderbüchern nicht allzu viele Worte verloren. Gehen die Verlage davon aus, dass in den Familien von Niedriglohnbeschäftigten und Bürgergeldempfängern ohnehin nicht viel gelesen wird? Lieber beschäftigt man sich – wie in »Bobo Siebenschläfer«, einem weiteren Renner im Kinderbuchsektor – mit einer Welt, in der Oma und Opa auf dem Biobauernhof einkaufen und die Eltern ökologisch korrekt Bus fahren. Vermutlich, um die zahlreichen Urlaubsflugreisen zu kompensieren.

Daher ist die Behauptung auf der Website des Carlsen-Verlags »Das Besondere an Conni? Sie ist ein Kind wie jedes andere!« eine dreiste Lüge. Das wohlstandsverwahrloste Milieu, das sich in heutigen Kinderbüchern entlarvt, hat Interesse an Ponys, aber nicht am Leben der anderen. Pech für Jürgen Körner und Semire!

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