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Nahost: Tagebuch aus einem zerrissenen Land
Die Journalistin Miriam Sachs ist für »nd« in Israel unterwegs – und schildert hier ihre Eindrücke
17.2.2025: ACHILLES UND DIE SCHILDKRÖTE
Der Waffenstillstand hält! Und: Die Weltgesundheitsorganisation hat Qais, den verletzten Sohn meines Freundes Deeb, jetzt ganz oben auf der Transferliste! Israel habe endlich genehmigt, ihn aus Gaza ausreisen zu lassen. Er und seine Familie mussten sehr früh aus ihrem Lager ins Krankenhaus nach Khan Yunis, um von dort weitertransportiert zu werden, zum Grenzübergang Rafah nach Ägypten. Ich fahre sozusagen luftlinienparallel mit dem Bus nach Eilat zur südlichsten Spitze, um ihnen von der anderen Seite entgegenzukommen.
***
Bus biegt ab im Kreisverkehr mit sehr vielen gelben Stühlen ringsherum. Ein jeder steht für eine der Geiseln, ob befreit, in Gefangenschaft oder für tot erklärt. Gesetzte Zeichen. Frei gehaltene Plätze. Denke dauernd das Wort »Verfallsdatum«. Wüstenartiges Brockenland. Hügel. Im Reisebus merkt man den Crossing-Point zum Westjordanland kaum.
Keine Nachricht von Deeb und Qais. Sind sie noch in Khan Yunis, Gaza? Oder schon auf dem Weg nach Rafah? Erstmals macht der Koffer wieder Sinn, den ich ihnen aushändigen möchte, denn sie haben jetzt so gut wie nichts. Für sie ist es eine Reise von 20 Kilometern nach Rafah. Für mich (mit allen Umwegen, Grenzen und verbotenen Straßen) eine von mindestens zwei Tagen.
Miriam Sachs ist Autorin und Theatermacherin. Ihre Arbeit brachte sie immer wieder nach Gaza. Als im August 2024 der neunjährige Sohn ihres Kollegen Deeb von einer Drohne angeschossen wurde, versuchte sie vergeblich, das Kind zur Behandlung nach Deutschland zu bringen. Ebenso wenig hatte ihr Versuch Erfolg, einen Koffer mit Hilfsmitteln nach Gaza zu bringen. Nun ist sie für einige Wochen wieder in Israel unterwegs – nicht nur, aber auch, um den rosa Rollkoffer doch noch an sein Ziel zu befördern. Für »nd« führt sie ein Tagebuch.
Der Bus hält an der Tankstelle gegenüber der Dead Sea Mall, einer Shopping-Meile am Toten Meer. Hinter dem Meer, hinter Zohar graben sich Dämme in die türkishellblaue Pfütze hinein. Merkt man den Grenzübergang nicht, weil so viele in Israel diese Grenzen missachten? Donald Trumps neuer israelischer Botschafter, ein evangelikaler Fernsehmoderator, erkennt nicht mal an, dass es Palästinenser gibt, geschweige denn eine Westbank.
»You want pipi?«, unterbricht der Busfahrer meine Gedanken.
Ja. Klospülung heißt auf Hebräisch »Niagara«.
Säße gerne hier vor dem Meer, das genau genommen keines ist, sondern ein See. Alles wie ausgestorben.
Ein umgekipptes Dixie-Klo sieht aus wie ein vom Himmel gefallenes Shuttle. Rostige Mülltonne mit Graffiti, das »Free Hersh« fordert. Hersh war eine der Geiseln, die längst tot sind. Sah sein Bild am Samstag auch auf dem Hostages Sqaure in Tel Aviv in der jubelnden Menge. Bin fast gerührter von der zu späten Schrift in der Wüste als vom Rummel der Massenveranstaltung.
Mondlandschaftsartige Brachen mit den Ausläufern des Toten Meeres im Hintergrund. Dann rostige Industrieanlagen. Das weiße Salz sticht bergeweise ins Auge. Erinnere mich daran, dass es tatsächlich brennt, wenn man etwas davon ins Auge bekommt. Felsen in der Wüste wirken wie vertrocknete ehemalige Sandburgen, die ein Riese aus Spaß zertreten hat. Ein anderer kleckerte daran weiter. Irgendwer will immer was. Treten, kleckern, weiterbauen.
Laut Thora soll man alle sieben Jahre seine Äcker brach liegen lassen, damit sich das Land erholt und damit ärmere Leute, Diener und Sklaven sich die wild wachsenden Früchte nehmen können. Und jedes siebte dieser Jahre, in denen das Land brach liegt – sprich: nach 49 Jahren –, ist ein Jubeljahr, in dem man seine Salz- und Magnesium-Abbaulizenzen, seine Fabriken für Wellness-Produkte und seine Ländereien einem anderen überlassen soll. Einer anderen jüdischen Familie? Einer palästinensischen? Donald Trump?
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Geografisch gesehen bin ich jetzt schon viel weiter als Deeb und Qais. Dennoch hinke ich hinterher. Es ist wie mit Achilles und der Schildkröte. Die Schildkröte ist schneller, weil Achilles in die andere Richtung läuft. Einmal um die Welt. Achilles bin ich nicht. Er hatte keinen rosa Rollkoffer bei sich. Ich bin die Schildkröte, die in die falsche Richtung läuft.
13.2.2025: EIN LAND WIE EINE SCHAUKEL
Ich hab meinen Koffer wieder. Jemand hatte ihn für mich beim letzten Mal aufbewahrt. Aber meine eigenen Sachen, die ich zurücklassen musste im Oktober 2024, sind weg. Ein zu warmer Pullover, Geld und ein paar Last-Minute-Einkäufe für die Familie von Qais, den verletzten Sohn meines Freundes Deeb. Vitamintabletten und auf ausdrücklichen Wunsch: Badelatschen. Die braucht man in Gaza, wenn man nur ein öffentliches Zelt mit schlammigem Boden und einem Loch für die Notdurft hat.
Tel Aviv, Strand. Ich nehme ein Selfie auf und winke in die Kamera. Ein IDF-Soldat mit Maschinengewehr auf einer Schaukel im Hintergrund denkt, ich winke ihm zu. Überraschender Zufallskontakt. Roi (22) ist sich der Absurdität des Bildes nicht bewusst. Waffenruhe hin oder her. Ab Samstag wieder Krieg? Wer weiß?! Er sitzt auf einer Schaukel. Die Waffe schaukelt mit. Er sagt, das sei der Normalzustand, in dem sich das Land nun mal befinde. Man könne nicht auf Momente »zwischen allem« verzichten. Verpflichtet, die Waffe immer bei sich zu tragen, sei er aber nun mal.
Das sei anfangs ungewohnt gewesen, inzwischen fühle er sich eher nervös, wenn er die MG mal nicht bei sich habe. War ein halbes Jahr in Gaza und sagt, es gebe nicht nur Terroristen dort, er wisse es, denn er sei Übersetzer bei der Armee gewesen. Das sei vielleicht »weitreichender« als Waffen. Er habe viel gehört von der anderen Seite.
Ich hatte lange kein behutsames Gespräch wie dieses, und das ausgerechnet mit jemandem von der Armee! Ein Augenblick ohne »Boots on the ground«. Umso ernüchternder endete es.
»Ich sehe keine andere Möglichkeit: Es müssen alle raus aus Gaza. Nach alldem kann es keinen Frieden geben.«
»Alle?«
Frage ihn, ob er davon gehört hat, dass man angeblich (pro Tag!) um die 50 Hamas-Mitglieder (plus je drei Begleiter) aus Gaza ausreisen lasse, zum Beispiel in die Türkei. Er habe nichts davon gehört, sagt er, aber es würde ihn nicht wundern, wenn dem so sei. Es sei nun mal »The best we can do – besides killing them« – wenn wir sie nicht besiegen können, dann sei es besser, sie sind »irgendwo anders«. Hauptsache, nicht in Gaza, nicht so nah an Israel.
Und weg ist dann weg?
Hochschaukelnde Gefühle. Gut, meinetwegen soll Hamas weg. Meinetwegen massenweise. Aber Kranke, die auf Transfer und Behandlungen warten, werden nicht rausgelassen? Und diejenigen in Gaza, die bleiben wollen, müssen sich von Donald Trump anhören, er werde jetzt Gaza übernehmen. Die Leute störten da, man wolle sie auch nicht nach einer Neustrukturierung der Region.
Nach 16 Monaten Krieg, in dem fast alle Menschen in Gaza alles verloren haben, soll man also noch das Letzte aufgeben, was man hat? Nachdem man über ein Jahr nicht vom Fleck konnte, obwohl man gerne vor den Raketen auf und davon gewesen wäre, koste es was es wolle. Und jetzt, wo die Waffen schweigen, ist man plötzlich im Weg?
»Ist das die Lösung? Alle müssen weg?«
Es gehe nicht anders, sagt Roi. Und es tue ihm leid.
AM SAMSTAG LÄUFT DAS ULTIMATUM AB. Wenn dann nicht die nächsten israelischen Geiseln von der Hamas freigelassen werden – wie angedroht –, dann könnte Israel die Kämpfe wieder aufnehmen.
10.2.2025: »DO NOT WALK OUTSIDE THIS AREA«
Seit wann braucht man ein Visum für Israel und muss vorweisen, dass man bereits einen Rückflug gebucht hat? Ich hatte keinen, weil ich nicht weiß, wie diese Reise verläuft. Deshalb habe ich beinahe meinen Flug verpasst, es am Ende aber doch noch ins fast leere Flugzeug geschafft. Durch die Wolkendecke geschlüpft – und plötzlich, von oben betrachtet, sieht die Welt vier Stunden lang schön aus: eine Schneelandschaft, aus der Berge ragen. Darüber stehen. Drüber hinweggehen.
»DO NOT WALK OUTSIDE THIS AREA« – das steht auf den Tragflächen des Fliegers, in dem ich sitze. Ob es deswegen niemand tut? Mein Freund Deeb sitzt immer noch mit seinem verletzten Sohn Qais im Gazastreifen fest, aber mittlerweile in Rafah, dicht an der ägyptischen Grenze.
Gelandet in Tel Aviv. Keiner wollte den gebuchten Rückflug sehen. Keiner das Visum. Am stufenlosen Rolltreppen-Fließband im Flughafen Ben Gurion fliegen die Plakate mit den Bildnissen der von der Hamas verschleppten Geiseln vorbei. Man sieht sie überall. Vertraut fremde Gesichter. Sind es weniger als vor vier Monaten? Hat man die entfernt, die wieder frei sind? Der Jubel ist groß. Aber solange nicht alle frei sind, ist die Freude nicht greifbar. Der Jubel verebbt.
Freue mich trotzdem: Dank der Waffenruhe lässt Israel endlich auch mehr Patienten aus Gaza gehen, Qais ist mittlerweile ganz oben auf der Liste der Weltgesundheitsorganisation: Und Israel gab gerade ebenfalls grünes Licht. Walk away, flieg davon.
Kurze Hoffnung für meinen Freund Deeb
Der Tag meiner Ankunft am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv war ein so hoffnungsvoller. Im Zuge des Geisel-Gefangenen-Deals war der im Mai 2024 bis auf Weiteres geschlossene Grenzübergang zu Gaza wieder geöffnet worden. Unter anderem für 218 Patienten und deren Angehörige.
»Und für Hamas!« Eben rief Deeb mit bebender Stimme an: »Wir kommen wohl nicht raus.« Aber dafür ein Haufen Hamas-Leute plus jeweils drei Begleiter.
»Das kann nicht sein! Ist das ein Nebenabkommen des Waffenstillstand-Deals? Wie kann Israel zulassen, dass Hamas davonspaziert?«
»Die wollen das sogar!« Deebs Stimme klingt rau und angeschlagen, als habe er Mühe, seinen Ärger zu schlucken.
»Auf Wunsch von … Israel?!« Die Hamas darf gehen, nachdem man ganz Gaza inklusive ziviler Bevölkerung niedergebombt hat, um sie zu vernichten?
»Ja.« Er klingt erschöpft und wütend zugleich.
»Werden sie dann anschließend verhaftet?«
»Nein. Sie dürfen in die Türkei. Wenn die Türkei will.«
»Und dort gehen sie dann in den Ruhestand?«
Deeb lacht ein seltsam ruhiges Lachen.
Inzwischen ist er auf dem Weg. Nicht nach Ägypten, sondern zurück zum Flüchtlingscamp. Erneut die zerschlagene Hoffnung auf eine OP im Ausland. Allah habe es nicht gewollt. Aber er wisse schon, warum.
»Warum?«
»Keine Ahnung.« Deeb weiß den Grund nicht, Allah wisse ihn. Alle anderen, die ihn wissen, sagen ihn nicht.
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