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Überflugkraft des Unnützen
Das neue Buch von Peter Handke: »Schnee von gestern, Schnee von morgen«
Der wahre Künstler bleibt kühl, wenn ganze Gebäude einstürzen. Aber jener Haarriss in einer weißen, sauberen Wand – der erschüttert. Haarrisse auf glatten Flächen sind die Landkarte der Feinfühligen. Dies war stets auch die Geografie für Peter Handke. »Schnee von gestern, Schnee von morgen« heißt sein jüngstes Buch, der Beititel: »Das Lautwerden des einen Kreuz-und-Quer-Gehenden zeit seines jeweiligen Innehaltens«. Das Erzähler-Ich, der Ich-Erzähler ist wieder einer jener »Alleingeher« zwischen Tagtraum und Halbschlaf, zwischen Kindertrotz (Trotz und Rotz) und Alterstrost (Trost und Rost).
Erholsame, herausfordernde Literatur ist das gegen Handy-Lemuren, Flexibilitäts-Furien, buntklamottige Kauflandsknechte (»Letzter Krieg: der Krieg von uns Unheilbaren gegen euch Ausgeheilte«). Poesie also gegen all die Sklaven auf der alltäglichen Soll-Strecke, beflissen unterwegs und vielleicht doch längst: zur Strecke Gebrachte.
Handke hat keinen Nerv dafür, wie die Unfreundlichkeit der Weltverhältnisse uns alle verhässlicht. Mit Masken und Grundhärteausbildung. Wo früher der seelisch Durchdrungene etwas galt, besetzt nun der empathielose Eindringling die Plätze: der Spötter, der nie Jean Paul las. So fließt der Text, halb Feingefühl, halb Feindgefühl.
Was sich in diesem Buch zwischen Wirklichkeit und Erzähler abspielt, gilt für Existenz überhaupt: Du bist allzeit und allseits ein Gesteigerter erst dann, wenn du den Blick der Dinge auf dir ruhen fühlst und dieses Fühlen geschehen lässt. Litt einst Novalis darunter, das Unbedingte zu wollen, aber doch immer nur auf die profanen Dinge zu stoßen, so ist das Profane bei Handke das Unbedingte. Sei es ein Apfel, angebissen von Kinderzähnen. Sei es das »Winken eines Holunderzweigs, etwas anderes als das Winken mit einem Zaunpfahl«. Das ist sie, die »Überflugkraft des Unnützen«. Jede Seite, die du aufschlägst, ein Güte-Manifest. Gewidmet allem, was unverfügbar bleibt für die Zugriffe unserer verbiesterten Zivilisation. Ein Wortwerk wider die Unzahl der Definitionen, was ein Mensch sei, und »eine jede falsch, frech-falsch«.
Herrliche lange Weile! Die auch diesem Buch Handkes eingeschrieben ist. Ihm ist jedes Vokabular zuwider, das in einem fremden Dienst stünde, im Dienst etwa von Eiferern des Durchblicks. Wortwerdung ist hier Weltschöpfung. Ohne sich in das zu verstricken, was sich Politik nennt oder Pflicht oder Profession oder Partei. Im Gemütsgepäck trägt der Dichter »ein paar elfte Gebote: keine Miene mehr verziehen, sich stillvergnügt durch die Welträume schleppen«. Wunderbare Aufforderungen: »Nie wieder Ausschau halten zu Bundesgenossen.« Oder: »Gerate ins Hintertreffen und leiste Vorschub.« Oder: »Freund, du musst das Übersehen lernen!«
All das Erstarrte und Verbrauchte, all das pressend Geordnete und drohend Gesetzmäßige unserer Tage – wie gern würden wir es herausreißen.
Handke setzt kräftige Farben gegen die ausgeblichene Projektionsfläche, Kunst müsse zuvörderst Erkenntnis liefern und Begriffsfindung sein. »Fürchte die Musen, die dir mit Versprechungen kommen.« Politische Bewegungen? Natürlich gibt es die Guten, »aber wehe, sie organisieren sich. Entorganisiert euch, Gute!« Die Konsequenz dessen: »Volksgemurmel eines Einzelnen. Ideal.«
So spricht und wettert dieser sanft cholerische Kobold-Kerl, der sich mit seinen Wahrnehmungen Romantik ansingt, wie sich andere Mut antrinken, und der an der Welt verzweifelt, weil er sich nach ihr sehnt. Dies genau ist der Reizpunkt: Noch wo er angreift, bleibt der Fluch-Flaneur ein Flehender. Zerschlägt Götzenbilder – um sich vor den Scherben hinzuknien. Handkes Redner ohne Gegenrede lebt aus jenem Moment heraus, da äußerstes Mitteilungsbedürfnis und äußerste Sprachlosigkeit zusammenstürzen.
Beim Lesen empfinde ich mich ungemein stärker und offener, als ich es gewöhnlich bin. Wie gesagt: Verwandlung! Eine Ahnung von Leichtigkeit, jener größten Radikalität, die sich denken lässt. Wenn es sich nur halten ließe, dieses durch Poesie gesteigerte Selbstverständnis! Es lässt sich nicht halten. Denn Lust lässt sich nicht halten. So aber, mit dem Gefühl für Verluste, und nur so, hält sich Lust wach. So könnte man die Confessio dieses Dichters zu fassen versuchen: einverstanden damit sein, ergriffen zu werden. Von aller Kreatur. Sogar vom Menschen.
Einmal fällt das Wort vom »Übertagblues«. Das lässt an Handkes früheres Stück »Untertagblues« denken: Da gab es den Wut-Entbrannten in der Metro, am Schluss aber der heilende Erfahrungsblitz: Wie rettend es ist, sich alles Krude von der Seele zu toben, ja – was aber, wenn dabei die Seele selbst zertobt wird? Diese übermäßige Auflagerung von Feindlichkeit ringsum, all das Erstarrte und Verbrauchte, all das pressend Geordnete und drohend Gesetzmäßige, das in jedem unserer Tage lauert – wie gern würden wir es herausreißen aus unserem Blickfeld.
Aber Vorsicht! Mit dem Heil der befreienden Beschimpfung wächst auch eine neue Bedrohung: Wütest dich zwar frei von allen und allem – stehst dann aber blass in der eigenen Erbärmlichkeit. So kommt, was bitte kommen möge: Es wächst in der gesuchten Einsamkeit eine erneute »Sehnsucht nach dem allerdichtesten Gedränge«. Ein Widerspruch? Und ob! Widerspruchsfreiheit? Schlimmste aller Diktaturen. Widersprüche fressen Leben. Und schaffen es erst. Der ewige Übertageblues.
Es ist, als versöhne sich Hamlet mit der Welt – das Seltsamste, was man sich vorstellen kann. Schön, genau dies zu denken und dann bei Handke zu lesen: »Seltsam währt am längsten.«
Peter Handke: Schnee von gestern, Schnee von morgen. Suhrkamp, 74 S., br., 20 €.
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