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Thesen, Sekten und ungarischer Wein
Aus der Marx-Engels-Forschung: Olaf Miemiec wagt eine Neuinterpretation der Feuerbach-Thesen von Marx
Angesichts der vielseitigen Literatur über die sogenannten Feuerbach-Thesen von Karl Marx einen »neuen Kommentar« zu versuchen, ist ein mutiges Unterfangen. Der Philosoph Olaf Miemiec, lange Zeit Vorstandsreferent der Linken im Bundestag und Vorstandsvorsitzender des Bildungsvereins Helle Panke, stellt in den »Beiträgen zur Marx-Engels-Forschung« seine Lesart vor. Um es gleich zu sagen: kenntnisreich, mit bewundernswert analytischem Verstand.
Nachdem Miemiec in den vorausgegangenen »Beiträgen« anhand der 11. These – »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern« – klargestellt hat, dass Interpretation und Veränderung der Welt sich nicht ausschließen, dass man aber beim Interpretieren nicht stehenbleiben darf, untersucht er nun, welche Schwerpunkte die einzelnen Thesen setzen und, stringenter als andere Autoren, wie sie sich aufeinander beziehen. Das ist wohl das »Neue« seiner Lesart. Dabei erwägt er mit Formulierungen wie »Meiner Auffassung nach …« gelegentlich auch die Möglichkeit, eine Aussage in zweierlei Weise zu deuten. Dieser persönliche Stil ist sympathisch.
Die 4. These, mit der Miemiec den zweiten Teil seines Essays beginnt, bezeugt zunächst nicht Kritik, sondern ein Anknüpfen an Feuerbach. Der Bruckberger Philosoph durchschaue die »Verdopplung der Welt in eine religiöse und eine weltliche Welt«. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Dass diese »Selbstzerrissenheit« in sozioökonomischen Widersprüchen ihren Ursprung hat, versuchte Feuerbach entsprechend seinen Möglichkeiten zu verstehen, aber dass diese Welt »praktisch revolutioniert« werden muss, erkennt er (noch) nicht. Das »Bewusstsein über die Änderungsnotwendigkeit der Grundlagen«, wie es Miemiec formuliert, ist der Schritt über Feuerbach hinaus. Damit beginnt die Abgrenzung von dem einst verehrten Philosophen.
Nun muss man konstatieren, dass Marx den Feuerbach und dessen Werk so gesehen hat, wie es zum Zeitpunkt der Niederschrift der Thesen, im Frühjahr 1845, bekannt war – und gar nicht anders sehen konnte. Da bleibt eine (wenn auch unbefriedigende) Profilierung Feuerbachs außer Acht. Dessen Engagement im Kreis der linksdemokratischen Abgeordneten nach dem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung und seine Vorlesungen vor »sozusagen kommunistischem Publikum« ab Dezember 1848 in Heidelberg sind durchaus bemerkenswert. Feuerbach sagt sich vom »Geist des Parlaments« los, rechtfertigt gewaltsame Auseinandersetzungen, durchschaut jedoch die Situation durchaus klar. »Die Reaktion wirkt in der Tiefe Deutschlands, die Reformation oder Revolution … nur an der Oberfläche«, schrieb er an den Verleger Otto Wigand. (Heute durchaus auch zutreffend.)
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Die Erfordernis der »praktisch-kritischen« Tätigkeit durchzieht den gesamten Gedankenverlauf der Thesen. Feuerbachs Gewichtung der bisher unbeachteten Sinnlichkeit des Menschen bleibe abstrakt, weil sein »Anschauungs«-Paradigma die gesellschaftliche Wirklichkeit und die Geschichte außen vor lässt; auch die Natur, wie der Mensch sie anschaut und auf sie reagiert, ist historisch geprägt.
Ein Hauptpunkt der Kritik ist Feuerbachs Auffassung vom »Wesen des Menschen«. Es ist ein wenig verwunderlich, dass der Einfluss von Friedrich Engels hier nicht erwähnt wird. Dieser lehnte den Wesensbegriff rundweg ab und erst recht die Vorstellung Gottes als transponiertes menschliches Wesen. Wenn Feuerbach das »menschliche Wesen oder Gott« in eins setzt (so im Text »Das Wesen der Religion«, den für Marx zu exzerpieren er sich vorgenommen hatte), muss man wissen, wie er beides in ihrer Wechselbeziehung versteht: In Gott oder dem Göttlichen manifestieren beziehungsweise projizieren sich die besten Eigenschaften und Sehnsüchte der Menschen. Engels kann die Feuerbachsche Herleitung nicht nachvollziehen, deshalb setzt er im Brief vom 19. August 1846 hinter Feuerbachs Terminus »vom Wesen oder Gott« zwei Ausrufezeichen, um Marx zu warnen. Und er zitiert ungenau, missachtet, dass die Sätze in Bezug auf die ältesten Naturreligionen stehen.
Am 19. November 1844, noch vor Niederschrift der Thesen, schreibt Engels an Marx: »Feuerbach ist von Gott auf den ›Menschen‹ gekommen …« Was nicht verwundert, schließlich war er Theologe. In der 4. These heißt es dann auch, er »geht von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in eine religiöse und eine weltliche aus«. Diese »Verdoppelung« oder Rückführung eines Tatbestandes auf das Gegenteil, die Miemiec in seiner Interpretation hervorhebt, wird Feuerbach nicht zugestanden. Zwar geht Feuerbach von Gott und den Gottesvorstellungen aus, aber er leitet sie vom Menschen ab, nicht umgekehrt. Das ist ja Feuerbachs »kopernikanische Wende« (Karl Löwith).
Engels begibt sich in einen unausgesprochenen Widerspruch zu Marx, der in der 6. These notiert: »Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf.« Also: Für Marx gibt es ein »menschliches Wesen«. Aber – und das ist wieder gegen Feuerbach formuliert: »In seiner Wirklichkeit ist es das ensemle der gesellschaftlichen Verhältnisse.« Darüber hinaus äußert Feuerbach sein weites, bis ins Säkulare reichende Religionsverständnis, wenn er sagt, die »Abhängigkeit … sich zum Bewusstsein erheben, sie sich vorstellen, beherzigen, bekennen, heißt sich zur Religion erheben«. Sieht man den Begriff »Abhängigkeit« umfassend, wie Friedrich Schleiermacher, so involviert er eine allgemeine Abhängigkeit des Menschen, das heißt auch von ökonomischen Bedingungen (die zu analysieren er nicht in der Lage war). Und da sind wir nahe bei Marx, der historisch-politischen Prägung jeder Religion.
»Die Reaktion wirkt in der Tiefe Deutschlands, die Reformation oder Revolution … nur an der Oberfläche.«
Ludwig Feuerbach
Miemiec sieht in der 5. These, die Feuerbachs »Anschauung«, welche »die Sinnlichkeit nicht als praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit« erfasst, einen frontalen Angriff auf die Anthropologie Feuerbachs. Nun hat dessen »Lehre vom Menschen«, so die Definition, sicher ihre Schwächen, aber die Aussagen von Marx über die Natur des Menschen sind eben auch recht dünn. Es gibt selbstverständlich anthropologische Erscheinungen, die den Menschen von Tieren und Pflanzen unterscheiden und die sehr wohl unter dem Abstraktum »Gattung« erfasst werden können. Marx kann man als sozialpolitischen, Feuerbach mit seiner Ich-Du-Philosophie als psychologischen Anthropologen verstehen. Mit Feuerbach ist uns viel verloren gegangen.
Was ein Missbehagen aufkommen lässt, ist der Umstand, dass die Thesen mitunter für die Beurteilung der Gesamtperson Feuerbach in Anspruch genommen werden. Und dass das, was Marx zur Selbstverständigung »rasch hingeschrieben« hat, wie Engels bemerkte, als kanonischer Text gelesen wird. Louis Althussers Appell, den »Spiegel-Mythos … einer unmittelbaren Lektüre« aufzugeben, vereinfacht gesagt: mit wachem, prüfendem Verstand an einen Text heranzugehen, wird nicht immer beherzigt.
Der Parteientheorie von Marx widmet sich der junge französische Historiker Jean Quétier. Die Arbeit wurde mit dem Rjasanow-Preis des Vereins zur Förderung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) gewürdigt. Deutlich wird, dass Marx vom Konzept einer kommunistischen Partei als aufgeklärtesten Teil des Proletariats in den 1860 Jahren abgekommen ist und die Entwicklung einer breiten Arbeiterpartei begünstigt hat, ohne zu verlangen, dass sie durchgängig kommunistisch agiert. Sehr aufschlussreich Quétiers Recherche zur Strategie der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) und zum Sektierertum. Marx tritt entschieden gegen die abgrenzende Benennung von Unterabteilungen, heute würden wir sagen: Strömungen, in einer Partei auf. Sollte einem da nicht das Gerangel unterschiedlicher »Plattformen« um linke Listenplätze einfallen?
Eine amüsante Story über den einstigen ungarischen Revolutions-Innenminister Bertalan von Szemere, der in England als Weinvertreter zu überleben versuchte, vermittelt Carl-Erich Vollgraf. Marx sollte für ihn Kunden akquirieren, was natürlich misslang. Frieder Otto Wolf überblickt den Stand der französischen Debatte über die Interpretation der Marx’schen Theorie im »Kapital«. Das Themenspektrum ist also sehr breit und die Lektüre gewinnbringend.
Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2022/23, erschienen im November 2024. Redaktion Rolf Hecker. Argument Verlag, 223 S., br., 25 €.
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