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»Dreams«: Toxische Machtspiele
Wettbewerb: »Dreams« von Michel Franco widmet sich illegalen Einwanderern
Ein Lastwagen bei Nacht und dann bei Tag. Man hört erschütternde Schreie, in ihm eingepferchte Menschen klopfen an die Wände des Lkw. Als sie endlich aussteigen dürfen, sind sie völlig entkräftet. Einem jungen Mann mit dem Namen Fernando (Isaac Hernández) gelingt es, sich von der Gruppe zu lösen. Zielstrebig schleppt er sich durch die erbarmungslose Hitze Kaliforniens. Als er endlich ein Diner erreicht, stürzt er sich durstig auf eine Karaffe mit Leitungswasser auf einem Tisch. Er wird rausgeworfen. Gäste wie er seien nicht erwünscht.
Vor zehn Jahren wurde Michel Franco mit »600 Meilen« in der Berlinale-Sektion Panorama für den besten Erstlingsfilm gekürt. Damals erzählte er von einem mexikanischen Drogenschmuggler und einem Agenten der Bundespolizeibehörde ATF, die sich durch eine Geiselnahme einander annähern. In »Dreams«, seinem neunten Film, mit dem er erstmals im Wettbewerb antritt und der am 15. Februar im Berlinale-Palast Weltpremiere feierte, zieht es ihn erneut nach Mexiko. Dieses Mal verknüpft der Regisseur eine toxische Affäre mit einem gesellschaftlich relevanten Thema: dem Zustrom illegaler Einwanderer in die USA. Laut Statista.com wurden 2024 rund 100 000 Menschen beim Versuch, illegal in die USA einzureisen, festgenommen.
Als der Protagonist des neuen Films von Franco endlich in der Stadtvilla von Jennifer (Jessica Chastain) ankommt, stürzt er an den Kühlschrank, stopft sich den Mund voller Blaubeeren. Sie fragt ihn, wie er in die USA gekommen sei, was es ihn gekostet habe, sich bis nach San Francisco durchzuschlagen. Er wird ihr Liebhaber. Es gibt wilden Sex, vom Regisseur komplett durch choreografiert. Franco interessiert sich für das Körperliche, inhaltlich setzt er auf eine einfache Erzählstruktur.
Fernando ist impulsiv, Jennifer eher kühl, elegant und sachlich. Sie wohnt in einem fast schmucklosen Haus; im Schlafzimmer hängt schlichte Kunst. Sie trägt Designerkleidung, ist perfekt durchgestylt, der Inbegriff einer reichen Amerikanerin. Gemeinsam mit ihrem Bruder (Rupert Friend) leitet Jennifer die Stiftung ihres Vaters (Marshall Bell). Über eine Tanzkompanie in Mexiko – ein Projekt der Stiftung – haben sich Jennifer und der Tänzer Fernando kennengelernt. Jetzt hat er sich – nicht zum ersten Mal – nach Amerika durchgekämpft, um dort endlich ein neues Leben aufzubauen. Jennifer, die vom Alter her seine Mutter sein könnte, kann nun ihr aufgeräumtes Leben nicht mehr von ihm trennen. Als der Leiter einer Ballettkompanie auf Fernando aufmerksam wird, scheint der junge Mann am Ziel seiner Träume zu sein.
Diesen Januar ist Isaac Hernández vom American Ballett Theatre zum ersten Tänzer gekrönt worden. Auch im Film tanzt er mit so großer Präzision, dass man keinen Zweifel an seinem Talent hegt. Franco, der auch das Drehbuch schrieb, hat sich spontan entschieden, diese Geschichte über Tanz zu erzählen, als er Hernández tanzen sah. Er sprach den Künstler an, der keinerlei Schauspielerfahrung hatte, und engagierte ihn vom Fleck weg. Als Schauspieler überzeugt der Profitänzer nicht.
Das mag auch daran liegen, dass Chastain und Hernández wandelnde Klischees sind. Franco nutzt Architektur, um Gefühle zu beschreiben. Die Bilder, sorgsam ausgewählt von Szenenbildner Alfredo Wigueras, hält Kameramann Yves Cape in riesigen, museumsartigen Räumen fest. Es sind Bilder von Einsamkeit und Kälte. Dass die Chemie zwischen Chastain und Hernández nicht stimmt, verstärkt den Effekt. Und doch berührt der relativ einfache und vorhersehbare Plot nicht, der Film wirkt zäh. Erst als sich die Wut der beiden Figuren aufeinander entlädt, bekommen diese am Ende doch noch ein Profil: ein fratzenhaftes.
»Dreams«, Mexiko 2024. Regie und Buch: Michel Franco. Mit Jessica Chastain, Isaac Hernández, Rupert Friend, Marshall Bell, Eligio Meléndez. 100 Min.
19.2., 21.20 Uhr, Uber Eats Music Hall (ausverkauft)
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