Awet Tesfaiesus: Die Antirassistin im Bundestag

Der Anschlag von Hanau war für Awet Tesfaiesus ein wichtiger Grund, um in die Politik zu gehen. Sie will gegen den Rechtsruck wirken

Awet Tesfaiesus vor dem Berliner Reichstag. Seit 2021 ist sie Abgeordnete im Bundestag und repräsentiert dort auch die Schwarze Community.
Awet Tesfaiesus vor dem Berliner Reichstag. Seit 2021 ist sie Abgeordnete im Bundestag und repräsentiert dort auch die Schwarze Community.

Die Aula der Heinrich-Schütz-Schule ist imposant, sie gleicht einem Theater – Eichenparkett und haushohe Decken; lange Vorhänge bedecken die Fenster. »Als ich das letzte Mal hier war«, erzählt Awet Tesfaiesus, »ging es um Asylpolitik. Walter Lübcke hatte hier gesprochen. Das war sehr emotional und ging hitzig zu.« Damals war sie Abgeordnete im Kasseler Stadtparlament für die Grünen, und der Regierungspräsident vertrat auf der Bürgerversammlung die Meinung, dass es möglich und notwendig sei, Geflüchtete aufzunehmen. Eine Auffassung, die Lübcke zum Verhängnis wurde. Der Neonazi Stephan Ernst erlebte den Regierungspräsidenten wenig später auf einer solchen Versammlung im Stadtteil Lohfelden und fasste daraufhin den Entschluss, Lübcke zu ermorden. Am 2. Juni 2019 erschoss er den CDU-Politiker in dessen Garten in Istha, einem Dorf im westlichen Kasseler Umland.

Für Tesfaiesus ist es etwas Besonderes, an die Schule zurückzukehren und vor Jugendlichen zu stehen, um mit ihnen über das politische Geschehen zu sprechen. Die 50-Jährige lebt mit ihrer Familie selbst in Kassel, hat ihren Wahlkreis aber im angrenzenden östlichen Hessen, der die Landkreise Werra-Meißner und Hersfeld-Rotenburg umfasst, eine ländliche Region, die lange als SPD-Hochburg galt. Mehr als ein Vierteljahrhundert hat der Sozialdemokrat Michael Roth hier das Direktmandat geholt. In diesem Jahr tritt er nicht mehr an, und das Rennen scheint offen zu sein – Favoriten sind Wilhelm Gebhard (CDU) und Daniel Iliev (SPD), zwei Kleinstadt-Bürgermeister aus der Region. Tesfaiesus ist seit 2021 Abgeordnete des Bundestags, für das Direktmandat hat sie nur Außenseiter-Chancen; aber sie kandidiert auf dem 5. Platz auf der Grünen-Landesliste und hat gute Aussichten, auch in der kommenden Legislaturperiode in den Bundestag einzuziehen.

Für viele der annähernd 200 Jugendlichen der Gesamtschule ist Tesfaiesus ein Vorbild. Etliche von ihnen kommen selbst aus Einwandererfamilien. Wie es sich denn anfühle, als erste Schwarze Frau im Bundestag zu sein, fragt eine Schülerin. »Das ist ja eigentlich meine Normalität«, antwortet Tesfaiesus, die sich natürlich bewusst ist, eine Tür geöffnet zu haben, um anderen damit Mut zu machen. »Aber ich musste mir selbst sagen«, erinnert sie sich, »das ist auch mein Parlament und mein Land. Wenn die AfD dort ist, dann möchte ich als Schwarze Frau dort auch sitzen.«

Zusammen mit ihrer Familie war Awet Tesfaiesus als Kind aus Eritrea geflüchtet. Sie lernte Deutsch in der Schule und studierte nach dem Abitur Jura in Heidelberg. In Kassel eröffnete sie daraufhin 2007 eine Kanzlei für Asyl- und Sozialrecht. In dieser Zeit hat sie eng mit dem hessischen Flüchtlingsrat zusammengearbeitet. Das Attentat von Hanau vor fünf Jahren, als ein Neonazi neun Menschen aus rassistischen Motiven tötete, war für sie ein Wendepunkt. Da beschloss sie, in die Bundespolitik zu gehen und ihre Arbeit in der Kanzlei aufzugeben.

Politik sei nicht irgendein Job, erzählt sie, sondern eine Möglichkeit zu wirken. Im Hinblick auf die kommende Generation fühlt sie sich dazu verpflichtet, für den Klimaschutz und für gute Lebensbedingen zu kämpfen. In der Aula stößt sie auf viele offene Ohren, aber es gibt auch einige kritische Fragen zur Atomkraft und Windrädern, zur Ukraine-Unterstützung und einem Verbot von Silvesterfeuerwerk. Vereinzelt gebe es in den Klassen Schüler, die der AfD nahe stehen, erzählt ein Referendar nach dem Gong, als sich die Aula geleert hatte. Die fielen aber nicht auf, in der Heinrich-Schütz-Schule erhielt Tesfaiesus viel Applaus.

Ganz anders am Tag zuvor in Wildeck-Obersuhl. Auf einer Podiumsdiskussion mit allen Direktkandidaten aus dem Wahlkreis jubelte eine Gruppe von Zuhörern dem AfD-Kandidaten demonstrativ zu. Die hätten sich mit dem Patrioten Gerhard Schenk auf dem Podium einmal ganz groß fühlen wollen, meint die Linke-Direktkandidatin Silvia Hable und erzählt, dass sie um Handzeichen gebeten habe, wer alles bereit sei, fürs Vaterland zu sterben? »Es gab rund 30 Meldungen im Publikum.« Über den Verlauf der Veranstaltung war Hable ebenso entsetzt wie Tesfaiesus. »Im Wahlkampf gibt es immer wieder Dämpfer«, meint die Grünen-Kandidatin. »Die AfD sät soviel Hass. Immer wieder betont sie, dass sie Ausländer ausweisen wolle. Und ehrlich gesagt fühle ich mich da auch adressiert.« Zwar ist sie seit bald 30 Jahren deutsche Staatsbürgerin, doch auch sie hat schon mit ihrer Familie ernsthaft darüber diskutiert, das Land zu verlassen, wenn die AfD tatsächlich an die Regierung kommen sollte.

Wahlkampf ist natürlich anstrengend. Wenige Tage vor der Abstimmung ist der Terminplan von Awet Tesfaiesus voll, von morgens bis abends ist sie unterwegs: Altenheim, Klimastreik, Infotisch auf dem Wochenmarkt im Schneegriesel, Döneressen mit der Grünen Jugend. Wo sie als Abgeordnete hinkommt, da scharen sich Menschen um sie. Tesfaiesus sucht den Austausch, redet, ohne eine Selbstdarstellerin zu sein, und ist zugleich Zuhörerin. Natürlich möchte sie gewählt werden, aber in den Gesprächen versucht sie nicht, schnell zu überzeugen, und auch von den täglichen Umfragewerten lässt sie sich nicht treiben. Vielmehr nutzt sie den Wahlkampf für etwas Grundlegendes – und das hängt mit dem Tabubruch der Unionsfraktion Ende Januar zusammen, die für eine Mehrheit gezielt die Stimmen der AfD suchte, um die Migrationsdebatte anzuheizen.

»Ich wünsche mir mehr Einspruch aus der Zivilgesellschaft – auch vonseiten der Kirchen und der Gewerkschaften. Ich wünsche mir ein breites Bündnis gegen die Normalisierung rechter Politik.«

Awet Tesfaiesus

Awet Tesfaiesus fürchtet den gesellschaftlichen Rechtsruck, dass das Spektrum des Sagbaren bewusst verschoben wird, und das Gift des Faschismus damit mehr und mehr ins Bewusstsein rückt. Mit Sorge erlebt sie, wie die AfD zunehmend als normale Partei angesehen wird, die man erdulden müsse, auch wenn man deren Ansichten haarsträubend findet. Dann widerspricht sie und tritt dafür ein, die Partei zu verbieten, weil sie antidemokratisch und zumindest in Teilen eindeutig rechtsextremistisch sei. »Ich wünsche mir mehr Einspruch aus der Zivilgesellschaft«, sagt sie. »Auch vonseiten der Kirchen und der Gewerkschaften. Ich wünsche mir ein breites Bündnis gegen die Normalisierung rechter Politik.«

Den Wahlkampf nutzt sie, um Brücken zu bauen. Positiv findet sie das Format der Küchengespräche. Anders als die Linke, die an die Haustüren geht und den spontanen Austausch sucht, verabredet sie sich mit Menschen und besucht sie. »Das sind oft natürlich keine Grünen-Mitglieder«, erzählt sie. »Einmal saß ich mit einem Mann zusammen, der viele Jahre CDU gewählt hatte und jetzt für sich die politische Landschaft neu auslotete.«

Eine Suchende war sie selbst, als sie vor mehr als 15 Jahren beschlossen hatte, in die Politik zu gehen. »Ich schaute mir natürlich auch die Linke an«, verrät sie. »Aber Sahra Wagenknecht war für mich ein Ausschlusskriterium. Sie hat immer arme Menschen gegeneinander ausgespielt.« Außerdem fand sie die Linke außenpolitisch oft schwierig. Ihr missfiel die Kritik an den USA und den westlichen Bündnissen, die nicht aus einer »kohärenten moralischen Position heraus erfolgt« sei. Die Partei habe im Kalten Krieg fest gehangen, so ihr Eindruck. Auch eine von der Linken oft betonte pazifistische Haltung sei für sie keine Garantie dafür, dass eine Position moralisch richtig ist. »Für mich waren die Genozide zum Beispiel in Ruanda in den 1990er Jahren prägend.« Ein militärisches Eingreifen hätte viel Leid verhindern können, meint sie.

Schlechte Kompromisse musste sie freilich auch bei den Grünen erleben. Viele Zugeständnisse machte die Fraktion in der Ampel-Koalition, die ihr gegen den Strich gingen, die gemeinsame europäische Asylpolitik oder die Sicherheitspakete, die mitunter auch Reisen von Asylsuchenden in ihr Heimatland untersagt oder die Sozialleistungen für manche von ihnen weiter einschränkt. Sie widersprach dagegen in der Fraktion, und sie habe auch nicht für die Beschlüsse gestimmt, erzählt sie. Durchsetzen konnte sie sich aber nicht. Doch anders als der Vorstand der Grünen Jugend, der als Konsequenz aus diesen Zugeständnissen im September geschlossen seinen Rücktritt erklärte, blieb Tesfaiesus in der Partei, die ihr längst zur politischen Heimat geworden ist. Hier ist die Basis für ihr Wirken.

In der Mittagspause in einem Café sickert die Meldung von der Amokfahrt in München in die Gewerkschaftsdemo durch. Tesfaiesus ist schockiert. In Gedanken sei sie bei den Opfern und deren Familien, schreibt sie später auf Instagram. Schon wieder eine solche Tat vor den Wahlen. Ihr Mitarbeiter Aram Antonjan liest Statements aus der Politik vor: Olaf Scholz fordert Abschiebung des Täters; Friedrich Merz verspricht, Recht und Ordnung durchzusetzen; und Alice Weidel verlangt eine Migrationswende. Es sind Reflexe. Tesfaiesus entgegnet darauf, es bräuchte einen Runden Tisch. »Wenn es wirklich um Verbesserungen geht, sollten wir alle den Menschen aus der Wissenschaft, der Justiz, der Medizin, der Psychiatrie und den Sicherheitskräften sowie den NGOs gut zuhören.« Ihre besonnene Stimme, die unterschiedliche Sichtweisen berücksichtigt, bleibt an diesem Tag ungehört.

Noch nie sei die Demokratie so gefährdet wie jetzt, sagt sie später während einer Diskussion mit den Grünen-Landtagsabgeordneten Hans-Jürgen Müller und Lara Klaes in den Räumen eines landwirtschaftlichen Ausbildungszentrums in Witzenhausen. Sie sieht, wie Marco Wanderwitz, der als CDU-Abgeordneter den Verbotsantrag der AfD vorangebracht hat, sich aus dem Bundestag zurückzieht, weil der Umgang in der Politik in den letzten Jahren brutal geworden sei. Aber sie selbst will kämpfen: »Ich sehe für mich keine andere Möglichkeit«, erklärt sie. »Aufgeben ist keine Option.«

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