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Eine neue Sicherheitsstruktur für Europa
Wie kann die politische und militärische Konfrontation zwischen dem Westen und Russland aufgebrochen werden?
Während insbesondere unter linksgerichteten Kommentatoren weithin anerkannt wird, dass die Nato das Blockdenken fördert, Anreize für eine gegenseitige Militarisierung schafft und letztlich zur Instabilität in Europa beiträgt, sind Forderungen nach einer Reduzierung oder gar Auflösung der Nato fehlgeleitet. Man könnte argumentieren, dass es klug gewesen wäre, die Nato in den 90er Jahren aufzulösen oder umzugestalten, nachdem man der russischen Führung informell versprochen hatte, den Block nicht zu erweitern. Kritiker halten dem gelegentlich entgegen, dass ein solcher Schritt die osteuropäischen Staaten in den 10er und 20er Jahren für russische Angriffe anfällig gemacht hätte. Es ist jedoch unmöglich zu wissen, ob diese Aggression in einem weniger konfrontativen Umfeld überhaupt stattgefunden hätte. Die Annahme, dass Russland immer aggressiv handeln wird, macht alle Bemühungen um die Sicherung des Friedens zunichte.
Eine Diskussion über die Auflösung der Nato kommt nun aber eindeutig zur Unzeit. Seit 2022 ist die Nato-Mitgliedschaft zu einer entscheidenden Sicherheitsgarantie für Länder in der Nähe Russlands geworden, wie der rasche Beitritt Schwedens und Finnlands zum Block zeigt. Forderungen nach einer Aussetzung der Nato übersehen die grundlegenden Sicherheitsbedürfnisse und den Willen der Bevölkerung in den Ländern Ost- und Nordeuropas, in denen die Nato-Mitgliedschaft nach wie vor einen breiten Konsens darstellt. Vorschläge zur Beendigung der Nato, ohne den Bevölkerungen, die allen Grund haben, sich bedroht zu fühlen, klare und praktikable Sicherheitsgarantien zu bieten, werden wahrscheinlich starken Widerstand und Feindseligkeit unter den Europäern hervorrufen.
Es sollte auch anerkannt werden, dass die Nato, abgesehen von ihrer Rolle bei der Verstärkung der gegenseitigen Feindseligkeit in Europa, vielleicht kontraintuitiv die Rolle einer relativen Abschreckung vor militärischen Abenteurern unter ihren einzelnen Mitgliedern spielt. Zwar ist es möglich, dass ein einzelnes Mitglied trotz der Einwände anderer Mitglieder in den Krieg zieht – insbesondere im Falle der Vereinigten Staaten als der führenden Militärmacht innerhalb des Blocks –, aber die Mitgliedschaft in der Nato verpflichtet dennoch zur Koordinierung mit anderen Mitgliedern, die möglicherweise weniger kriegslüstern sind. Dies steht im Gegensatz zur OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit – ein Militärbündnis mehrerer Staaten der Ex-Sowjetunion unter Führung Russlands – die Redaktion), in der es keine Mechanismen für eine kollektive Entscheidungsfindung gibt, bei der die Interessen aller Teilnehmer berücksichtigt werden. In diesem Sinne könnte die sofortige Auflösung der Nato ohne die Schaffung eines alternativen Sicherheitsrahmens eher zu mehr als zu weniger aggressivem Verhalten seitens mächtiger Akteure führen.
Der Historiker und Politologe Ilja Budraitskis, Jahrgang 1981, und der Philosoph und Soziologe Grigori Judin, Jahrgang 1983, lehrten an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Derzeit sind sie an Universitäten in den USA tätig. Der Text auf dieser Seite ist eine Passage aus einem Papier der beiden Wissenschaftler, in dem sie Vorschläge für die Überwindung der Feindschaft zwischen den militärischen Blöcken in Europa machen. Das Papier erschien zuerst auf dem russischsprachigen Online-Portal Posle-media, einem wichtigen Diskussionsforum der russischen Linken.
Das vollständige Dokument findet sich auf Russisch im Internet unter
dasnd.de/posle-media, auf Englisch unter dasnd.de/overcoming.
Ein vielversprechenderer Ansatz wäre die Schaffung einer neuen, übergreifenden Struktur, die alle europäischen Akteure einschließt, die derzeit durch die Rivalität zwischen den Blöcken gespalten sind. Anstatt zur Auflösung der bestehenden Blöcke aufzurufen – eine Forderung, die in Kriegszeiten unweigerlich als feindlich empfunden wird –, würde die Schaffung einer gesamteuropäischen Sicherheitsorganisation dem Grundsatz der Unteilbarkeit der kollektiven Sicherheit gerecht werden. Auch wenn die Schaffung einer solchen Organisation, die Vertreter beider Blöcke vereint, in Zeiten akuter Konflikte eine Herausforderung darstellt, zeigen historische Präzedenzfälle, dass diese Aufgabe nicht unmöglich ist, vorausgesetzt, die Initiative ist gut durchdacht. Die Helsinki-Vereinbarungen von 1975, die zur Gründung der OSZE führten, sind ein besonders gutes Beispiel.
Um den Erfolg einer solchen Initiative zu gewährleisten, müssen drei Leitprinzipien beachtet werden.
Erstens: Gemeinsame Sicherheit. Die Logik von Militärblöcken führt unweigerlich dazu, dass Länder ihre Sicherheit als »gegen« andere wahrnehmen. Während die Formel »Sicherheit gegen« in beiden Blöcken nach 2022 besonders ausgeprägt war, hatte sich diese Denkweise schon lange vorher tief verankert. Sowohl die Erweiterung der Nato als auch das Beharren Moskaus darauf, dass die Souveränität der Ukraine die russische Sicherheit bedroht, beruhen auf der gemeinsamen Überzeugung, dass kollektive Sicherheit in Europa unerreichbar ist. Eine neue Organisation, der alle europäischen Staaten angehören, muss von der Annahme ausgehen, dass Sicherheit gemeinsam und nur durch Zusammenarbeit mit anderen erreicht werden kann, und nicht in Opposition zu ihnen.
Zweitens: Mechanismen der Entscheidungsfindung. Die Beteiligung an der neuen Organisation bedeutet keinen Souveränitätsverzicht, aber alle Mitglieder verpflichten sich, sich an die gemeinsam getroffenen Entscheidungen zu halten. Militäroperationen und die Aufstockung bestimmter Arten von Rüstungsgütern müssen von allen Mitgliedern kollektiv ratifiziert werden. Die Organisation ist zwar kein Militärbündnis, aber sie erleichtert und fördert gemeinsame militärische Übungen ihrer Mitglieder, um Vertrauen und Zusammenarbeit aufzubauen. Der auf Konsens basierende Entscheidungsfindungsprozess gewährleistet, dass alle Mitglieder den Schlüssel zur europäischen Sicherheit in der Hand haben, so dass Sicherheit etwas ist, das für alle Mitglieder und nicht gegen eines von ihnen umgesetzt wird.
Drittens: Wahrung der Souveränität. Jeder Mitgliedstaat behält die volle und gleiche Souveränität über seine Sicherheitsangelegenheiten und kann sich an anderen Bündnissen und Sicherheitsorganisationen beteiligen. Dies bedeutet, dass die bestehenden Blöcke nicht aufgelöst werden müssen; vielmehr würden sich ihre europäischen Mitglieder einer übergreifenden Struktur anschließen, ohne ihre Verpflichtungen innerhalb anderer Organisationen aufzugeben. Für die europäischen Nato-Mitglieder würde dies die Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten verringern und zusätzliche Mechanismen zur Gewährleistung der Sicherheit schaffen – eine Entwicklung, die unter der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump besonders aktuell ist.
Der Gedanke, dass gemeinsame Sicherheitsstrukturen notwendig sind, um die europäischen Nicht-Nato-Staaten, insbesondere Russland, nicht zu verprellen, ist nicht neu. Dies war der Grundgedanke hinter dem Ständigen Gemeinsamen Nato-Russland-Rat, der später im Jahr 2002 in Nato-Russland-Rat umbenannt wurde. Die Struktur dieses Gremiums war jedoch von Anfang an dysfunktional: Da die Nato innerhalb des Rates als einheitlicher Block auftrat, war Russland versucht, ein Gegenbündnis zu bilden. Der Rat wurde letztlich kaum mehr als ein Verhandlungstisch zwischen den beiden rivalisierenden Blöcken, dem es an wirksamen Mechanismen zur Gewährleistung einer Einigung oder zur Durchsetzung von Maßnahmen fehlte.
Die vorgeschlagene Sicherheitsstruktur, an der Vertreter sowohl der militärischen als auch der politischen Blöcke beteiligt sind, kann nur dann erfolgreich sein, wenn zwischen den Teilnehmern ein Grundvertrauen besteht. Dieses Vertrauen muss auf gemeinsamen Grundsätzen beruhen, wobei die Unannehmbarkeit eines Krieges in Europa und die Souveränität eines jeden Landes im Mittelpunkt stehen. Es sei jedoch daran erinnert, dass der relative Erfolg der Helsinki-Vereinbarungen nicht nur auf Sicherheitsbelangen beruhte, sondern auch auf einem breiteren Spektrum gemeinsamer Werte. Dazu gehörten Garantien für die Menschenrechte (die zum Beispiel zu einer Verringerung der politischen Unterdrückung in der UdSSR führten) und das Gebot der nuklearen Abrüstung.
Heutzutage muss dieser Rahmen eindeutig erweitert und aktualisiert werden, um den grundlegend neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Entscheidend ist, dass auf allen Seiten des Konflikts ein dringender Bedarf an substanzieller Demokratisierung besteht. Die Machtkonzentration, die Krise der politischen Repräsentation und die weit verbreitete Enttäuschung über die Politik sind in ganz Europa deutlich zu spüren und bilden den Nährboden für einen unverantwortlichen Militarismus der Eliten. Die Demokratisierung könnte die notwendigen Kontrollen der derzeitigen Entscheidungsfindungssysteme einführen, die Möglichkeiten für unkontrollierte politische Manöver verringern und die allgemeine Sicherheit erhöhen. Dieser Ansatz würde allen Beteiligten zugutekommen, ähnlich wie die Betonung der Menschenrechte, die den Helsinki-Vereinbarungen zugrunde liegt. Eine gemeinsame Agenda – wie etwa kollektive Maßnahmen gegen den Klimawandel und die Bekämpfung der Ungleichheit – könnte ebenfalls eine solide Grundlage für solche Abkommen bilden.
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Statt alle Hoffnungen auf die Nationalstaaten zu setzen, sieht der vorgeschlagene Ansatz vor, dass die Zivilgesellschaft, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, lokale und andere Gemeinschaften eine wichtige Rolle im europäischen Sicherheitsdialog spielen. Die neue Struktur und ihr Engagement für die Demokratisierung werden einen Rahmen schaffen, in dem nichtstaatliche Akteure in zweierlei Hinsicht Einfluss nehmen können. Erstens werden sie einen größeren Einfluss auf die Regierungen in ihren eigenen Ländern haben. Zweitens werden sie in der Lage sein, sich an die neue Organisation zu wenden und an sie zu appellieren, entscheidende Sicherheitsfragen anzusprechen, bevor sie zu Konflikten eskalieren, und um Unterstützung zu bitten, um die Regierungen zu ermutigen, sich an die in den Vereinbarungen dargelegten Grundsätze zu halten.
Die Linke kann mit ihrem Programm, Frieden auf Gerechtigkeit zu gründen, eine entscheidende Rolle beim Aufbau dieser Grundlage für eine neue und integrative Sicherheitsarchitektur spielen. Die Verabschiedung dieser Agenda durch progressive Kräfte in ganz Europa würde der Friedensbewegung zu programmatischer Klarheit verhelfen. Im gegenwärtigen Kontext eines akuten militärischen Konflikts und eines begrenzten rechtlichen Raums für den politischen Kampf in vielen Ländern können die Slogans »Frieden« und »Abrüstung« mit willkürlichen Inhalten gefüllt und von Pro-Putin- und rechtsextremen Kräften politisch manipuliert werden. Es ist an der Zeit, vage Friedensaufrufe durch einen konkreten Vorschlag zur Erreichung eines dauerhaften Friedens zu ersetzen, der nicht auf dem guten Willen einzelner Akteure mit einer Geschichte des Opportunismus beruht.
Die neue Struktur sollte alle europäischen Nationen als Einzelmitglieder einbeziehen, um ein Patt zwischen den Blöcken zu vermeiden. Bestehende Militärbündnisse bleiben bestehen und beeinflussen weiterhin das Sicherheitskalkül der einzelnen Mitglieder. Dieser Ansatz ermöglicht es den Ländern, ihre Sicherheitsverpflichtungen beizubehalten. Die gemeinsame Mitgliedschaft in dieser neuen Struktur wird jedoch eine Plattform bieten, um die Blockdynamik mit den Grundsätzen der gemeinsamen Sicherheit in Einklang zu bringen. Es besteht die begründete Hoffnung, dass dieser Ansatz, wenn er erfolgreich ist, die bestehenden Militärbündnisse in Europa in absehbarer Zeit obsolet macht und ihre Auflösung oder Umwidmung ermöglicht, ohne die Sicherheit irgendeiner Nation zu gefährden.
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