»Das Deutsche Volk«: Das Leid ist immer dasselbe

Berlinale-Premiere: In »Das Deutsche Volk« erinnert Marcin Wierzchowski an die Opfer von Hanau

  • Interview: Inga Dreyer
  • Lesedauer: 7 Min.
Als wäre nichts geschehen. Und doch geschah es – in Hanau, der Stadt der Märchenbrüder Grimm.
Als wäre nichts geschehen. Und doch geschah es – in Hanau, der Stadt der Märchenbrüder Grimm.

Am Abend des 19. Februar 2020 erschoss ein Rechtsextremer in der Hanauer Innenstadt neun junge Menschen mit Migrationsgeschichte. Wie erinnern Sie sich an diese Tragödie?

Am 19. saß ich am Abend mit meinem Freund Mario auf der Couch in seiner WG. Irgendwann kamen die ersten Nachrichten, dass mehrere Menschen in der Innenstadt von Hanau erschossen worden sind. Ich habe zu ihm gesagt: Das war ein Nazi. Ich hatte das im Gefühl. Denn die Stimmung im Land, die nach 2015 erst einmal positiv war, ist damals total gekippt. Shisha-Bars standen als angeblich kriminelle Orte im Fokus. Wo schlägt man zu? Da, wo viele Menschen mit Migrationsgeschichte leben. Abends hieß es noch: Das war möglicherweise eine Tat im kriminellen Milieu. Morgens war dann klar, dass es ein rassistischer Anschlag war. Hanau liegt um die Ecke von dort, wo ich wohne. Deshalb bin ich hingefahren – erst einmal ohne Kamera. Ich wollte gucken: Was ist da los? Kann man helfen? Im Laufe des Tages habe ich dann beschlossen, das zu dokumentieren.

Wie haben Sie sich den Betroffenen angenähert?

In der ersten Woche gab es Solidaritätsaktionen in der Stadt. Es hat sich eine bundesweite Initiative gegründet, die eine Bühne baute, um die Betroffenen sprechen zu lassen. Erst hieß es damals, das sei ein »fremdenfeindlicher« Anschlag gewesen. Aber es wurde von der Bühne gesagt: Die Opfer waren keine »Fremden«. Das Framing hat sich geändert. Nach einer Woche dann die Beerdigungen und Trauerfeiern. Ich war dort und habe gefilmt – aber immer aus einiger Entfernung. Wenn der Sarg unter die Erde gelassen wurde, sind die Journalist*innen immer nah herangegangen. Aber ich dachte, diesen Moment will man doch im Privaten verbringen. Ich habe mich den Trauernden vorgestellt und gefragt, ob ich filmen darf. Sie haben mich explizit eingeladen. Irgendwann hatte ich den Spitznamen »der Pole mit der Kamera«.

Interview

Marcin Wierzchowski, 1984 in War­schau geboren, war noch ein Baby, als seine Eltern mit ihm in die Bundes­republik übersiedelten. Er begann ein Philosophiestudium in Frankfurt am Main und wechselte dann an die Kunst­hoch­schule Mainz, um Freie Bildende Kunst mit dem Schwer­punkt Film bei Harald Schleicher zu studieren. Heute lebt und arbeitet er in Frankfurt am Main und Warschau. Sein erster Film, die 47-minütige Dokumentation »Hanau – eine Nacht und ihre Folgen« wurde 2022 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet und bildet die Grundlage für seinen Langfilm »Das Deutsche Volk« (2025), der auf der dies­jährigen Berlinale Premiere feierte.

Sie erzählen den Film konsequent aus der Perspektive der Betroffenen. Staatliche Stellen kommen bei offiziellen Anlässen zu Wort, Sie haben aber keine Interviews angefragt. Wann haben Sie sich für diese Herangehensweise entschieden?

Es war gar nicht mein Interesse, eine Einordnung zu geben. Es ist kein journalistischer Film, sondern einer, der kommentarlos die Perspektive der Angehörigen aufnimmt. Die Vertreter*innen der Behörden haben ja gelogen, wie sich immer wieder herausgestellt hat. Was bringt mir dann deren Aussage? Mir war schnell klar: Mich interessiert, was die Betroffenen denken und fühlen und sagen.

Vier Jahre haben Sie die Angehörigen auf ihrem Weg begleitet. Wie gehen Ihre Protagonist*innen mit der Trauer, dem Schock und der Wut um?

Sie haben beschlossen, laut zu sein und zu kämpfen – nicht nur, was die Erinnerung, sondern auch, was die Aufklärung angeht. Gleichzeitig sind es natürlich unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Charakteren und Umgehensweisen. Piter Minemann ist drei Tage nach dem Anschlag zum Islam konvertiert, weil ihn eine Kugel nur knapp verfehlt hat. Niculescu Păun macht seinen Sohn zu einem Helden, der er in dieser Nacht auch war. Die Strategien der Hinterbliebenen sind sehr vielfältig. Sie eint, dass sie offensiv mit dem Erlebten umgehen und keine Opfer sein wollen.

Ihre erste, kürzere Dokumentation »Hanau – eine Nacht und ihre Folgen« wurde 2022 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. War Ihnen damals schon klar, dass Sie weiter zu dem Thema arbeiten werden?

»Das Deutsche Volk« ist der eigentliche Film, den ich von Anfang an machen wollte. Das lange Format nimmt sich mehr Zeit und kann anders erzählen. Der erste Film wurde mir angeboten und ich fand es richtig, den Angehörigen schon früh eine Stimme zu geben und nicht so lange zu warten. Damals ging es um eine Bestandsaufnahme. Später hat sich im Untersuchungsausschuss alles bestätigt, was die Angehörigen schon nach zwei Monaten wussten, weil sie von Anfang an den richtigen Riecher hatten, zum Beispiel was den verschlossenen Notausgang in der Bar und die Probleme beim Notruf betraf.

Fünf Jahre nach der Tat ist Migration – auch angesichts der Anschläge in München, Magdeburg und Aschaffenburg – ein kontrovers diskutiertes Wahlkampfthema. Wie hat sich die Lage in Deutschland seit Hanau verändert?

Ich würde sagen: Die Kämpfe der Angehörigen und ihrer Supporter haben durchaus etwas gebracht – nämlich, dass nicht mehr über die Täter, sondern über die Opfer gesprochen wird. Es gibt schon lange antirassistische Kämpfe in Deutschland, zum Beispiel nach Mölln Anfang der 90er. Aber mit Hanau ist das anders in die Öffentlichkeit gekommen. Es wurde den Angehörigen mehr zugehört. Es gab im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Dokumentarfilme über die Betroffenen. Man dachte: Es geht voran, es passiert etwas. Und jetzt plötzlich sind wir in der Amnesie – wie der Goldfisch im Glas. Alles ist vergessen. Man redet über Migrant*innen, als hätte es vor 70 Jahren kein Anwerbeabkommen gegeben, als hätten viele Menschen nicht schon eine lange Geschichte in Deutschland hinter sich. Das ist wirklich erstaunlich. Wie heißt es bei Bertolt Brecht zum Faschismus? »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.« Es kann ganz schnell gehen. Wir haben gerade eine wirklich gefährliche Situation. Wir sollten die Augen offen halten und alles tun, dass das nicht wieder passiert. Es liegt an uns allen.

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Haben Sie mit den Angehörigen in Hanau über die aktuellen politischen Debatten gesprochen?

Ja, sie spüren das natürlich. Ihre Kinder, ihre Angehörigen und ihre Liebsten wurden aus rassistischen Motiven ermordet. Viele haben diesen Rassismus vorher gar nicht so direkt wahrgenommen. Sie waren Teil dieser Gesellschaft oder haben sich zumindest so gefühlt. Dann wurde ihnen gesagt: Ihr gehört nicht dazu. Ihr werdet auch nie dazugehören. Und jetzt merken sie, dass sie nicht die Einzigen sind, denen es so geht, sondern das politische Klima viele andere auch ausgrenzt. Sie sind alle sehr betroffen von den jüngsten Anschlägen. Sie sind sehr solidarisch mit den Familien und Angehörigen und leiden mit. Sie sagen: Wir wollen, dass nie wieder irgendjemand so leiden muss. Egal aus welchen Motiven: Das Leid für die Familien ist dasselbe.

In Ihrem Film und auch in aktuellen Debatten geht es um die Frage: Wer gehört dazu? Diesen Kampf um Anerkennung – kennen Sie den aus eigener Erfahrung?

Als wir damals nach Deutschland kamen, waren die Pol*innen die Spargelstecher*innen. Meine Mutter war Putzfrau, obwohl sie in Polen einen guten Job als Büroleiterin in der Buchhaltung hatte. Pol*innen galten als Alkoholiker*innen oder Dieb*innen, die »Polacken«. Diese Haltung gab es damals gegenüber Menschen aus Osteuropa. Oft hörte ich den Witz: Wo ist mein Portemonnaie? Ich kann darüber lachen, aber die Abwertung war schon zu spüren. So habe ich Rassismus erlebt, nicht über meine Hautfarbe.

Fast genau fünf Jahre nach dem Anschlag, am 18. Februar 2025, feierte ihr Dokumentarfilm seine Premiere bei der Berlinale. Was bedeutet das für die Hinterbliebenen?

Der Film nähert sich den Auswirkungen des Anschlags und dem Verlust von geliebten Personen an. Aber es geht auch um die Zeit danach, wie die Betroffenen behandelt worden sind, welche Traumata ausgelöst und verstärkt worden sind. Es geht darum, das irgendwie begreifbar zu machen. Die Hinterbliebenen sagen, der Film hat es geschafft, das sichtbar zu machen. Wir wissen nicht, was in ihren vier Wänden passiert, wenn die Kamera nicht da ist. Aber wir ahnen, wie schlimm es sein muss. Der Film kann ein bisschen spürbar machen, was es auslöst, wenn jemand beschließt: Du bist nichts wert. Ich lösche dich aus. Deshalb kommen viele Hanauer*innen zur Berlinale.

Woran arbeiten Sie im Moment?

Ich schreibe gerade an fiktionalen Stoffen. Zuvor habe ich fünf Jahre in Brasilien gedreht, in Rio de Janeiro, während der Bolsonaro-Zeit. Der Film ist abgedreht, er wird »Die Stadt der Propheten« heißen. Es geht um den Aufstieg Bolsonaros und der rechten und religiösen Kräfte im Land. Den Film werde ich hoffentlich im nächsten Jahr komplett fertiggestellt haben.

»Das Deutsche Volk«, Deutschland 2025. Regie: Marcin Wierzchowski. 132 Min.
20.2., 21.30 Uhr, Colosseum 1

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