- Politik
- Festung Europa
120 000 Pushbacks an EU-Außengrenzen
Neue Untersuchung belegt systematische Praxis
Die Zahl systematischer Zurückweisungen von Migrant*innen an den EU-Außengrenzen hat in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen. Ein aktueller Bericht von neun Menschenrechtsorganisationen aus verschiedenen Ländern dokumentiert nun mehr als 120 457 solcher Pushbacks allein im Jahr 2024. Besonders gravierend ist die Situation laut dem Bericht in Bulgarien, wo im vergangenen Jahr 52 534 Pushbacks in Richtung Türkei registriert wurden.
Auch andere EU-Länder wie Griechenland (14 482), Polen (13 600), Ungarn (5713), Lettland (5388), Kroatien (1905) und Litauen (1002) waren demnach für eine beträchtliche Anzahl illegaler Zurückweisungen verantwortlich. Keine Gesamtzahl, aber einzelne Angaben gibt es auch zur zypriotischen Küstenwache, die im Jahr 2024 mindestens sieben Boote mit Hunderten Asylsuchenden zurückgewiesen hat.
Die Praxis verstößt gegen geltendes EU-Recht und internationale Vereinbarungen, da sie Menschen daran hindert, einen Asylantrag zu stellen und damit ein Grundrecht wahrzunehmen. Oft erfolgt dies unter Einsatz von staatlicher Gewalt: Asylsuchende werden wie auf dem Balkan von Grenztruppen brutal verprügelt, wie im östlichen Mittelmeer auf See ausgesetzt oder wie an der Grenze zu Belarus bei eisiger Kälte in unzugänglichen Wäldern zurückgelassen.
Die neun Menschenrechtsorganisationen warnen vor einer zunehmenden »Versicherheitlichung« von Migration an den EU-Außengrenzen. In ihrem Bericht kritisieren sie auch ein »systematisches Versagen der EU bei der Durchsetzung eines der grundlegendsten Menschenrechte« und warnen vor einer weiteren Zunahme von Pushbacks.
Auch Nicht-EU-Staaten wie Libyen (21 762) und der Libanon (3768) sind in die Pushback-Praxis involviert. Ihre Abfangaktionen auf See erfolgen laut dem Bericht mit »direkter und umfangreicher« Unterstützung von Italien, Zypern und EU-Institutionen. Im Mai 2024 reiste etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Beirut, um dem Libanon eine Milliarde Euro für Migrationskontrolle und Wirtschaftshilfe zuzusagen. Ähnliche Mittel, allerdings ausschließlich zur Steuerung oder Abwehr von Migration, erhält Libyen.
Die juristische Aufarbeitung bleibt in den EU-Staaten weitgehend aus. In Griechenland wurde laut der Untersuchung bislang kein einziger Pushback-Fall vor Gericht verhandelt. In Bulgarien wurde trotz zahlreicher dokumentierter Verstöße noch kein Polizist sanktioniert.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) verhängte hingegen eine Geldstrafe gegen Ungarn wegen seiner Pushback-Praxis. Erstmals hat außerdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Griechenland kürzlich wegen »systematischer« Pushbacks verurteilt. Derzeit verhandelt das Gericht weitere Fälle gegen Polen, Lettland und Litauen wegen Zurückweisungen an der belarussischen Grenze.
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex wird von den Organisationen ebenfalls kritisiert. Trotz einer neuen Führung unter dem Niederländer Hans Leijtens und Versprechen von mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht beteilige sich die Agentur weiterhin an Zurückweisungen.
Die aktuelle Untersuchung zu Pushbacks an den EU-Außengrenzen wurde gemeinsam von 11.11.11 (Belgien), dem Hungarian Helsinki Committee (Ungarn), der We Are Monitoring Association (Polen), dem Center for Peace Studies (Kroatien), dem Lebanese Center for Human Rights (CLDH), Sienos Grupė (Litauen), dem Centre for Legal Aid – Voice in Bulgaria (CLA), der Foundation Mission Wings (Bulgarien) und I Want to Help Refugees (Lettland) durchgeführt.
Die Organisationen fordern von den EU-Mitgliedstaaten die sofortige Beendigung der Pushback-Praxis, die Einrichtung unabhängiger Überwachungsmechanismen, die Einstellung von Frontex-Aktivitäten in Ländern mit systematischen Rechtsverstößen sowie die Bindung von Grenzschutzfinanzierung an die Einhaltung der Menschenrechte. Von der EU-Kommission verlangen sie, Vertragsverletzungsverfahren gegen Staaten einzuleiten, die gegen EU-Recht verstoßen, die Finanzierung des nationalen Grenzmanagements bei Rechtsverstößen auszusetzen und die Unterstützung der libyschen und libanesischen Küstenwachen zu stoppen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.