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Neues Wahlrecht: Direkt ins Ungewisse
Bundestagswahl nach neuen Regeln: Nicht jeder Wahlkreissieger kann sich sicher sein, ins Parlament einzuziehen
Wenn an diesem Sonntag der nächste Bundestag gewählt wird, ist das nicht nur ein politischer Einschnitt, weil sich die Kräfteverhältnisse deutlich nach rechts verschieben werden. Es ist auch der Praxistest für ein Wahlrecht, das lange umstritten war und seine Ecken und Kanten hat. Der Bundestag hat über Jahre hinweg mehrere Anläufe unternommen, das Wahlrecht zu ändern, weil das Parlament immer größer wurde. Idealerweise sollen dem Bundestag 598 Abgeordnete angehören: die direkt Gewählten in den 299 Wahlkreisen und genauso viele von den Landeslisten der Parteien. Doch spätestens mit dem Erstarken der AfD wurde die Diskrepanz zwischen Erst- und Zweitstimmen so groß, dass immer mehr sogenannte Überhang- und Ausgleichsmandate nötig wurden, um die Proportionen des Wahlergebnisses zu wahren. Mit der Folge, dass der noch amtierende Bundestag mit 733 Mandaten der größte aller Zeiten ist.
Um diese Entwicklung zu stoppen, gab es diverse Vorschläge für eine Reform des Wahlrechts. Schon beschlossen war eine ziemlich radikale Variante, mit der unter anderem die Grundmandatsklausel abgeschafft werden sollte. Die bedeutet, dass eine Partei auch dann in den Bundestag kommt, wenn sie zwar unter der Fünf-Prozent-Hürde bleibt, aber wenigstens drei Direktmandate gewinnt. Die Regel soll Parteien zugutekommen, die in einzelnen Regionen stark vertreten sind.
Weil die Grundmandatsklausel für Die Linke eine Art Lebensversicherung für den Ernstfall darstellt, hatte sie – neben der CSU – gegen deren Abschaffung geklagt. Mit Erfolg. Zuletzt trat der Ernstfall bei der Bundestagswahl 2021 ein, als die Linkspartei mit 4,9 Prozent draußen gewesen wäre, aber von drei Direktmandaten in Berlin und Leipzig gerettet wurde. Und auch im derzeitigen Wahlkampf setzt Die Linke auf zwei Standbeine: mindestens fünf Prozent und sicherheitshalber mindestens drei Wahlkreissiege. Selbst wenn die nicht mehr überlebenswichtig sein sollten, bleiben sie eine Prestigefrage. Und ein Nachweis dafür, wie stark eine Partei vor Ort verankert ist.
Drei Direktmandate bleiben für Die Linke eine Herausforderung, auch wenn sich ihre Umfragewerte in den letzten Wochen spürbar verbessert haben. Unangefochten dürfte Gregor Gysi sein, der seinen Berliner Wahlkreis Treptow-Köpenick schon fünfmal gewonnen hat. Daneben kann sich die Partei ernsthafte Hoffnungen in Berlin Lichtenberg-Hohenschönhausen (wo Ines Schwerdtner darum kämpft, den Wahlkreis nicht der AfD-Politikerin Beatrix von Storch zu überlassen), in Erfurt und Umland (Bodo Ramelow) und Leipzig (Sören Pellmann, der schon zweimal das Direktmandat holte) machen. In Berlin-Neukölln, Friedrichshain-Kreuzberg und Rostock sind Direktmandate für Die Linke ebenfalls nicht außer Reichweite – eine erstaunliche Entwicklung auch deshalb, weil das BSW teilweise die gleiche Zielgruppe anspricht und einen Teil seiner wenigen Direktkandidaten in den für die Linke aussichtsreichen Wahlkreisen ins Rennen geschickt hat.
Doch nicht allen Wahlkreissiegern ist – wie bisher – ein Mandat sicher. Das ist ein großer Haken des neuen Wahlrechts. Jede Partei erhält – jeweils auf das Bundesland berechnet – höchstens so viele Direktmandate, wie von den Zweitstimmen gedeckt sind. Das heißt: Gewinnt eine Partei in einem Bundesland überdurchschnittlich viele Wahlkreise, dann gehen die Sieger mit den geringsten Prozentwerten leer aus.
Am stärksten betroffen von diesem Wahlrecht werden bei der anstehenden Bundestagswahl Union und AfD sein, eventuell übrigens auch Die Linke in Berlin – selbst wenn das neue Wahlrecht bis zu 630 Abgeordnete zulässt. Schaut man auf Karten mit allen 299 Wahlkreisen, die nach der Gewinnwahrscheinlichkeit eingefärbt sind, dann sind die ostdeutschen Bundesländer bis auf wenige Inseln blau, der Westen ist weitgehend schwarz. Die AfD im Osten sowie CDU und CSU im Westen dürften die allermeisten Wahlkreise gewinnen, aber ihre Zweitstimmen werden nicht ausreichen, um alle Wahlkreissieger mit einem Mandat auszustatten.
Zudem kann es passieren, dass hier ein Wahlkreissieger mit 23 Prozent ins Parlament einzieht, andernorts aber einer mit 25 Prozent ausscheidet. Auch deshalb dürfte das diesmal geltende Wahlrecht nicht das letzte Wort sein, sondern bald wieder zur Debatte stehen.
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